Arbeit und Soziales

Zahlen belegen Bildungsungerechtigkeit

Ein Vergleich von Schulbildungsabschlüssen an weiterführenden Schulen in Münster und aus NRW

Von Regina Ioffe

Ein Vergleich der Zahlen bei den Schulabschlüssen zeigt: An Münsters weiterführenden Schulen zeigt sich offensichtlich ein Problem, ein Verteilungsproblem sozusagen. Die höheren Abschlüsse bleiben mehrheitlich den deutschen Schüler*innen vorbehalten, während die nicht deutschen Schüler*innen hauptsächlich die Hauptschule absolvieren oder sogar ohne Abschluss die Schule verlassen.
Wie sagte der Erziehungswissenschaftler Prof. Frank-Olaf Radtke noch 2013 in einem Interview*: „In der deutschen Diskussion wird im Grunde nur über das Versagen der Schüler geredet, das Versagen der Schule aber bleibt unbeachtet… Geht man aber eher von Fremdselektion aus, muss man über Selektionspraktiken und Themen wie institutionelle und strukturelle Diskriminierung sprechen. Das ist politisch natürlich sehr viel brisanter und auch schwieriger.“

Motto: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“

In der Universitätsstadt Münster stimmt etwas nicht mit der Schulbildung und Integration. Die von IT.NRW öffentlich (unter anderem in Diagrammen) publizierten Daten zeigen für Münster eine ausgesprochen starke Diskrepanz in Schulbildungsabschlüssen zwischen jungen Menschen mit der deutschen und einer ausländischen Staatsangehörigkeit. Ich präsentiere die Zahlen nach Geschlechtern getrennt und beginne den Vergleich mit den höchsten Schulabschlüssen.

Diagramm 1

Im Jahr 2020 erreichte die stolze Zahl von 55 Prozent aller männlichen Schulabgänger mit deutscher Staatsangehörigkeit in Münster eine (Fach-) Hochschulreife und ist somit wesentlich höher als im Schnitt in NRW (zirka 41,6 Prozent). Klar, werden jetzt viele sagen, Münster ist eben eine Universitätsstadt, hier leben viele gut gebildete deutsche Familien.
Demgegenüber stehen nur zirka 14 Prozent Schulabgänger ohne deutsche Staatsangehörigkeit, denen es in Münster gelungen ist, eine (Fach- Hochschulreife zu erlangen (Diagramm 1). Zum Vergleich ziehe ich zunächst andere Universitätsstädte in NRW mit einer vergleichbaren Einwohnerzahl wie Aachen und Bonn heran. Mit 14 Prozent Abiturient*innen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit liegt Münster leicht hinter der Stadt Aachen (18,9 Prozent) und weit hinter der Stadt Bonn (27,1 Prozent). Man könnte vermuten, dass ausländische Familien, die über bessere Ressourcen verfügen, in Aachen leben und insbesondere in Bonn, wo ihre Kinder bessere Schulabschlüsse erreichen. Dem widerspricht aber die Tatsache, dass im Kreis Coesfeld und im Landesdurchschnitt ein etwas größerer Anteil, nämlich 17,9 Prozent der Jungen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit, eine (Fach-) Hochschulreife (Diagramm 2) erreicht. Das Ergebnis in Münster ist also geringfügig schlechter als im gesamten Land.

Diagramm 2

Schüler*innen mit ausländischen Wurzeln haben in Münster besonders geringen Schulerfolg

Interessant ist auch das Verhältnis bei den höchsten Schulabschlüssen: In NRW kommen in den letzten Jahren im Schnitt auf zwei Jungen mit deutscher Staatsangehörigkeit ein Junge ohne deutsche Staatsangehörigkeit, der die (Fach-) Hochschulreife erworben hat. In Münster besteht ein anderes Verhältnis: Auf drei bis vier deutsche Schüler kommt nur einer ohne deutsche Staatsangehörigkeit, der (Fach-)Hochschulreife vorweisen kann. 2015 konnten in Münster nur 12 Prozent der Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit (Fach-) Hochschulreife erreichen, also um einen Faktor von 4,11 seltener als die deutschen Mitschüler.

Diagramm 3

Richten wir unseren Blick auf den denkbar niedrigsten Schulbildungsabschluss, und zwar den Schulabgang ohne Hauptschulabschluss (Diagramm 3): Die Zahlen für Münster sind leider alarmierend schlecht. Jahr für Jahr übersteigt der Anteil von Jungen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die in Münster eine Schule ohne Schulabschluss verlassen, den Durchschnittswert für NRW (17,6 Prozent zu 12,6 Prozent im Jahr 2012, 21,6 Prozent zu 13,2 Im Jahr 2015, 29,9 Prozent zu 19,4 Prozent im Jahr 2018, 23,5 Prozent zu 16,7 Prozent im Jahr 2020).
Der Anteil von Schulabgängern mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit ohne Hauptschulabschluss ist in Münster höher als zum Beispiel im Kreis Coesfeld und wesentlich höher als in vergleichbaren Universitätsstädten wie Aachen oder Bonn.

Diagramm 4

Bei Mädchen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit ergibt sich ein ähnliches Bild: Sie erreichen in Münster im Vergleich zu Aachen oder Bonn seltener das (Fach-)Abitur und bleiben häufiger ohne Hauptschulabschluss als Mädchen mit deutscher Staatsangehörigkeit (Diagramm 4). Verglichen mit dem Kreis Coesfeld, erreichen die ausländischen Schülerinnen in Münster zwar geringfügig häufiger ein (Fach-)Abitur, aber bleiben leider auch in dieser Gruppe wesentlich häufiger ohne Hauptschulabschluss (Diagramm 5).

Quote ohne Schulabschluss bei migrantischen Schülerinnen besonders krass

Diagramm 5

Im Schuljahr 2014/15 fiel etwas besonders auf: 30 Prozent der Schülerinnen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, also fast ein Drittel, verließen in Münster eine weiterführende Schule ohne Hauptschulabschluss, dreimal mehr als Ausländerinnen im gleichen Jahr im NRW-Durchschnitt. Das war zehnmal häufiger als bei Münsteraner Schülerinnen mit deutscher Staatsangehörigkeit (nur 3,7 Prozent ohne Hauptschulabschluss).
In Münster ist die Diskrepanz bei Schulabschlüssen zwischen deutschen und ausländischen bzw. migrantischen Schulabgänger*innen besonders stark im Vergleich zu Durchschnittswerten aus NRW: Letztere erreichen seltener ein (Fach-) Abitur, dafür häufiger einen Hauptschulabschluss, und sie bleiben häufiger ganz ohne Abschluss (Diagramme 6 und 7).

Diagramm 6

Die Gründe für das schlechte Abschneiden in Münster sind ungeklärt

Man sollte sorgfältig die Gründe erforschen, warum es in Münster bei Schüler*innen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit so häufig zu gescheiterten Schulbildungsbiographien kommt. War die Sprachförderung in Kita und Grundschule ausreichend? Ist die Förderung in den Hauptfächern in der Grundschule erteilt bzw. rechtzeitig erteilt worden? Wurden die Eltern über die Lernschwierigkeiten der Kinder rechtzeitig informiert? Wurde ihnen der Weg erläutert, wie sie die außerschulischen Förderangebote in Anspruch nehmen können? War der Unterricht für diese Kinder schlechter oder wurden sie strenger bewertet?

In einer Studie aus dem Jahr 2022 untersuchten die Autoren T. Stubbe, W. Bos, B. Euen die unterschiedlich strengere Bewertung durch Grundschullehrer in Deutschland und – damit verbunden – die nicht ganz „neutrale“ Gymnasialempfehlung in Abhängigkeit von der beruflichen Stellung der Eltern. Im Fachjargon heißt das „institutionelle Diskriminierung der Kinder aus Familien mit einer niedrigeren sozio-ökonomischen Stellung“. Es ist eine der wenigen Studien dieser Art in der BRD, die möglicherweise die Problematik der Kinder mit einer nicht deutschen Staatsangehörigkeit in der gesamten Schullaufbahn erklären kann (Tabelle).

Diagramm 7

Die nach den Autoren Erikson, Goldthorpe und Portocarero (1979) benannten EGP-Klassen unterscheiden folgende berufliche Stellungen: (I) obere Dienstklasse (z. B. Spitzenmanager); (II) untere Dienstklasse (z.B. Ärzte, Beamte); (III) Angestellte mit gewissen Entscheidungsbefugnissen und/oder Routinetätigkeiten; (IV) Selbständige; (V) (Fach-)Arbeiter (z. B. Elektrotechniker), (VI) angelernte Arbeiter; (VII) ungelernte Arbeiter und Landwirte.
Die Studie zeigte: Damit ein Kind aus einer Arbeiterfamilie eine Gymnasialempfehlung bekommt, muss es beim Lesen wesentlich mehr können, fast an der Grenze zur höchstmöglichen Kompetenzstufe V sein, wesentlich mehr Punkte bei einem standardisierten Test erreichen, als ein Kind aus einer Ärzte- oder Beamtenfamilie. Der Unterschied betrug im Schnitt 79 Punkte.

Zum Schluss noch ein Gedankenspiel: Wäre ein Mann namens Abdulfattah Jandali aus Syrien (leiblicher Vater von Steve Jobs, Gründer der Apple Inc.) zwecks Promotionsstudium nicht in die USA, sondern nach Deutschland eingereist, und wäre sein halb syrischer, halb deutscher nichtehelicher Sohn (seine leibliche Mutter Joanne Schieble ist Deutscher und Schweizer Abstammung) zur Adoption durch eine Nicht-Akademiker-Familie nicht in den USA, sondern in Deutschland freigegeben worden… Wäre der talentierte Junge dann zum Gründer und CEO des Weltunternehmens Apple Inc. aufgestiegen oder hätte er stattdessen eher einen Döner- Imbiss oder ein Taxi-Unternehmen betrieben?

* Online Artikel vom 14.10.2013,
Link (https://mediendienst-integration.de/artikel/wir-muessen-in-alle-richtungen-nach-den-ursachen-suchen.html)

** Quelle: in Anlehnung an die Tabelle 8.10 aus Stubbe /Bos /Euen 2012, S. 221

Stubbe, Tobias/Bos, Wilfried/Euen, Benjamin 2012: Kapitel VIII Der Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe, in: Bos, Wilfried/ Tarelli, Irmela/Bremerich-Vos, Albert/ Schwippert, Knut (Hrsg.): IGLU 2011.
Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich, Waxmann Verlag GmbH, 2012

Diagramme erstellt anhand von:

Integrationsprofil Münster.
Daten zu Zuwanderung und Integration.
Ausgaben 2021, 2019, 2016.

Integrationsprofil Städteregion Aachen.
Daten zu Zuwanderung und Integration.
Ausgabe 2021.

Integrationsprofil Bonn.
Daten zu Zuwanderung und Integration.
Ausgabe 2021.

Integrationsprofil Kreis Coesfeld.
Daten zu Zuwanderung und Integration.
Ausgabe 2021.

Sperre Redaktion
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