Vor 75 Jahren, im Mai 1949, wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Das sind 75 Jahre angestrebte, aber nicht vollendete Gleichberechtigung.
Von Regina Ioffe
Artikel 3 beinhaltet das für Menschen wichtige Grundrecht der Gleichberechtigung und verbietet eine Benachteiligung oder eine Bevorzugung.
Der Artikel 3 ist so wichtig, dass ich ihn hier vollständig zitiere:
Art. 3 Grundgesetz
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) trat in Deutschland im Jahr 2006 ein Gesetz in Kraft, das den Schutz vor Diskriminierung im Bereich des Arbeitslebens und in Teilen des Zivilrechts regelt.
Die dazu ins Leben gerufene Antidiskriminierungsstelle des Bundes macht Öffentlichkeitsarbeit, berät Betroffene über rechtliche Möglichkeiten, gegen Diskriminierung vorzugehen, und gibt wissenschaftliche Studien zum Thema Diskriminierung in Auftrag. In größeren Orten gibt es lokale Beratungsstellen gegen Diskriminierung, in NRW sind sie in 32 Städten und Kreisen vorhanden. Seit 2020 gibt es auch in Münster eine Beratungsstelle gegen Diskriminierung, die in Kooperation mit den Wohlfahrtsverbänden DRK und Caritas arbeitet.
Von Natur aus neigen wir dazu, Menschen der eigenen Gruppe zu bevorzugen und uns fremden Menschen reserviert gegenüber zu zeigen – das haben die Sozialpsychologen Henri Tajfel und Muzafer Sherif in Experimenten herausgefunden. So verhalten wir uns auch bei der Verteilung von Ressourcen, insbesondere wenn sie begrenzt sind. Eigengruppenbevorzugung ist ein einflussreicher Faktor im menschlichen Zusammenleben und könnte das in der Evolution vorteilhafte Verhalten widerspiegeln, sowohl sich selbst als auch Ressourcen für die eigene Gruppe zu schützen.
Gibt es oder gab es in der Vergangenheit bezüglich der Gleichberechtigung noch offene „Baustellen“? Ich denke schon und erwähne hier einige Beispiele.
Der Niedriglohnsektor
Bis zum Jahr 2005 wurden für Zuwander*innen Sprachkurse nur auf Anfänger-Niveau finanziert, als Konsequenz wurden den Migrant*innen mangelhafte Sprachkenntnisse vorgeworfen. Ausländische Schulbildungsabschlüsse und Berufsabschlüsse wurden kaum anerkannt und von Arbeitgebern nicht akzeptiert, was dazu führte, dass Migrant*innen höhere Arbeitslosenquoten aufwiesen, länger arbeitslos blieben und nachfolgend besonders häufig nur im Niedriglohnsektor eine Beschäftigung fanden. Dieser gesellschaftliche Abstieg wirkte negativ auf ihre Kinder – indirekte Migrant*innen, die zwar in Deutschland geboren worden sind, aber wegen der Zugehörigkeit zu einer anderen Kultur, Religion oder mit einer anderen Muttersprache auch wie ihre Eltern benachteiligt wurden.
Drei Diagramme anhand von Daten1 aus dem Jahr 2018 zeigen noch vorhandene Benachteiligungen, zum Beispiel im Bereich Niedriglohn in den westlichen Bundesländern.
Während nur 17,7 Prozent der abhängig Beschäftigten mit deutscher Staatszugehörigkeit in Westdeutschland einen Niedriglohn bezogen, waren es 33,0 Prozent ausländische Staatsangehörige, die im selben Jahr einen Niedriglohn bezogen.
Obwohl Männer und Frauen gleichberechtigt sind, beziehen Frauen wesentlich häufiger als Männer einen Niedriglohn, und zwar im Verhältnis von 26,1 zu 14 Prozent.
All diese Beispiele zeigen, wie wichtig und nach wie vor aktuell der Artikel 3 des Grundgesetzes ist und wie notwendig die weitere rechtliche Entwicklung anderer Gesetze und Arbeitsmarktinitiativen in diesem Zusammenhang ist.
Familienpolitik, Kinderwunsch und Benachteiligung
Jetzt möchte ich einige Beispiele von Benachteiligung im Bereich der Familienpolitik nennen. Familienpolitik hat Bedeutung für den Arbeitsmarkt, weil Kinder von heute Auszubildende und Studierende von morgen sind und die Arbeitnehmer*innen von übermorgen werden. Im Jahr 2021 betrug die Fertilitätsrate2 in Deutschland 1,5833, im Jahr 2022 nur 1,46, im Jahr 2023 noch weniger (1,35), während die notwendige Zahl für eine stabile Bevölkerungszahl 2,1 Kinder je Frau ist.
Unsere Welt ist im Laufe der Jahrzehnte bunter geworden, weltweit entstehen neue Familienformen: Single-Eltern, homosexuelle Elternpaare, Mehr-Eltern-Konstellationen. Für den zukünftigen Arbeitsmarkt wäre es nur wünschenswert, wenn jeder Kinderwunsch begrüßt würde. In der Realität legt man in Deutschland jedoch rechtlich zweierlei Maß an – zum Beispiel bei der anteiligen Kostenübernahme durch die Krankenkassen oder berufsrechtlich (Landesärztekammer), indem die Kinderwünsche verheirateter heterosexueller Paare besser gestellt sind gegenüber denen von homosexuellen Paare und alleinstehenden Frauen.
Wenn eine Single-Frau sich in ein Kinderwunschzentrum in Deutschland begibt, wird häufig nicht nur ein Vertrag mit einer Garantieperson für eventuelle Unterhaltszahlungen verlangt (was in anderen Staaten nicht erforderlich ist), sondern außerdem finanzielle Auskünfte via Kontoauszüge, über Rücklagen, Lebensversicherung usw. Es zeigt den krassen Unterschied zu heterosexuellen Paaren, die keine finanziellen Sicherheiten VOR dem Kinderwunsch vorlegen müssen.
Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes deklariert: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ und das sollte für den Kinderwunsch auch gelten. Von mehr Kindern profitiert Deutschland als Wirtschaftsstandort.
Schulpolitik und Benachteiligungen im Bildungssystem
Prof. Meike Bonefeld4 und andere Forscher vom Lehrstuhl Pädagogische Psychologie an der Universität Mannheim stellten 2017 in einer großen Studie mit fast 1500 Gymnasiast*innen aus fünf Klassen fest: Schüler*innen mit Migrationshintergrund bekamen konsequent in fünf Messzeitpunkten schlechtere Noten im Fach Mathematik bei Klassenarbeiten und im Zeugnis im Vergleich zu deutschen Schüler*innen bei gleichen Leistungen in standardisierten Mathematik-Leistungstests. Bonefeld deutete diese Ergebnisse als „einen Hinweis auf systematische Benachteiligungsprozesse im deutschen Bildungssystem auch nach dem bedeutsamen Übergang in die Sekundarstufe“. Weitere Forschungen von Bonefeld sind der Erarbeitung von vorurteilsneutralen Bewertungen für Schulbildung in Deutschland gewidmet. Neutrale und gerechte Bewertungen im Schulsystem sind sehr wichtig, weil die Bildung nachfolgende berufliche Wege bestimmt.
Verbot der Benachteiligung von behinderten Menschen
Im Herbst 1994, vor genau 30 Jahren also, wurde dem Artikel 3 des Grundgesetzes ein wichtiger Satz hinzugefügt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Dieser Zusatz bildete sozusagen den Startschuss für die Entstehung einer inklusiven Gesellschaft. Seit der Ratifizierung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen im Jahr 2009 ist Deutschland verpflichtet, sich für Teilhabe der behinderten Menschen im gesellschaftlichen Leben und im Arbeitsleben durch den Abbau von verschiedenen Barrieren einzusetzen. Es geht zum Beispiel um den Abbau von baulichen Barrieren in den Städten, um einen ÖPNV, der für Rollstuhlfahrer geeignet ist, um technische PC-Hilfsmittel zum besseren Lernen und Arbeiten für sehbehinderte Menschen, um Texte in leichter Sprache für Menschen mit Lernschwierigkeiten und viele andere Maßnahmen.
Auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland genauso wie in anderen Staaten sind die Chancen schwerbehinderter Menschen, eine Arbeit zu finden, schwierig. Schwerbehinderung führt oft genug zu Langzeitarbeitslosigkeit, die wiederum die Chancen auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit weiter verringert. Es entsteht ein Teufelskreis. Im Zeitraum von November 2021 bis Oktober 2022 lag die bisherige Dauer der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen im Schnitt bei 732 Tagen, die der arbeitslosen ohne Schwerbehinderung bei 630 Tagen.
Alle privaten und öffentlichen Arbeitgeber mit mindestens 20 Arbeitsplätzen sind verpflichtet, wenigstens fünf Prozent davon mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen (§ 154 SGB IX). Schwerbehinderte Auszubildende und ihnen gleichgestellte auszubildende behinderte Menschen werden auf zwei Pflichtarbeitsplätze angerechnet. Für jeden nicht mit einem schwerbehinderten Menschen besetzten Pflichtarbeitsplatz ist eine Ausgleichsabgabe zu zahlen.
Durch das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts ergeben sich ab dem Kalenderjahr 2024 folgende Regelungen: Die Ausgleichsabgabe für Arbeitgeber mit 60 und mehr Beschäftigten beträgt monatlich gestaffelt je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigungsquote von drei bis unter fünf Prozent: 140 Euro; bei zwei bis unter drei Prozent: 245 Euro; bei unter zwei, aber mehr als 0 Prozent: 360 Euro monatlich.
Arbeitgeber, die im Bezugsjahr keinen einzigen Quotenarbeitsplatz besetzt haben zahlen 720 Euro monatlich. Mit den geänderten Regelungen beabsichtigte der Gesetzgeber, einerseits den Druck auf die Arbeitgeber zu verschärfen, die keine Pflichtarbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen, und andererseits Anreize zu schaffen, mehr behinderte Menschen im ersten Arbeitsmarkt zu beschäftigen.
Aus der Statistik der Bundesagentur für Arbeit geht für das Berichtsjahr 2022 hervor: von den Wirtschaftszweigen nehmen in NRW die öffentliche Verwaltung und die Sozialversicherung traditionell die führende Rolle bei der Beschäftigung von behinderten Menschen ein. Dagegen beschäftigen mehr als 30 Prozent der Arbeitgeber aus zahllosen geeigneten Wirtschaftszweigen wie etwa Gastronomie, Film, TV, Kino und Tonstudio, Informationsdienstleistungen, Rechts-, Steuerberatung, Architektur-und Ingenieurbüros, Labore, Werbeagenturen und Marktforschung sowie in sonstigen freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Tätigkeiten keine behinderten Arbeitnehmer*innen auf Pflichtarbeitsplätzen.
Man sieht also, wie wichtig der konsequente Kampf gegen die Benachteiligung von behinderten Menschen ist und wohl auch bleibt.
1 Eigene Darstellung nach Tabelle 3, Tatort Niedriglohn in Bayern, Autoren: Dr. Claudia Weinkopf, Dr. Thorsten Kalina. Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ), München, November 2020, S.17
2 Die Fertilitätsrate bezeichnet die durchschnittliche Anzahl der Kinder, die eine Frau während ihres gebärfähigen Alters zur Welt bringt.
4 „Migrationsbedingte Disparitäten in der Notenvergabe nach dem Übergang auf das Gymnasium“, M. Bonefeld et al., Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, (2017), 49 (1), 11–23
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