Fachkräftemangel und Neurodiversität
von Regina Ioffe
Das Weltwirtschaftsforum prognostiziert, dass es zukünftig in den USA und insbesondere in Europa wesentlich schwieriger wird, passende Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen für offene Stellen zu finden. Eine wesentlich größere Rolle sollte deshalb eine Politik der Vielfalt, der Gleichstellung und der Inklusion spielen.
Bereits in den 1960er-Jahren kam in den USA der sogenannte Diversitätsgedanke auf. Durch die Verabschiedung des „Equal Employment Opportunities“-Gesetzes im Jahr 1965 wurde öffentlichen Unternehmen verboten, jemanden wegen seines Geschlechts und Alters, seiner Herkunft, Rasse oder Behinderung zu diskriminieren. Amerikanische Großkonzerne wie Ford, Hewlett-Packard, IBM, Procter & Gamble brachten den Diversitätsgedanken in den 1990er-Jahre zu ihren Standorten nach Europa, so auch nach Deutschland.
Lufthansa und Daimler übernahmen den Diversitätsgedanken, aber nur in Teilen, sie förderten hauptsächlich Internationalität und Altersvielfalt.
Es gab und gibt aber einige Gruppen von Arbeitnehmenden, die es besonders schwer am Arbeitsmarkt hatten und haben: neurodivergente Menschen, etwa Menschen mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen) und insbesondere Menschen mit Autismus.
Das hat Gründe: Kommunikation und Interaktion mit Arbeitskolleg*innen, Vorgesetzten und Kund*innen, die Reizfilterung am Arbeitsplatz und die Selbstorganisation bringen für Autisten beachtliche Schwierigkeiten mit sich.
Deutschland hat keine spezielle bundeseinheitliche Strategie zur Beschäftigung von Menschen mit Autismus und steht damit hinter Staaten wie Dänemark, Großbritannien, Ungarn und Frankreich.
In Deutschland haben zudem wissenschaftlich fundierte exakte Statistiken über Menschen mit Autismus gefehlt. Schätzungen gehen heute von Krankheitshäufigkeit von 0,9 bis 1,1 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Das sind in absoluten Zahlen rund 830.000 Menschen, die mit einer Autismus-Spektrum-Störung hierzulande leben.
Dänemark zum Beispiel verfügt über genauere Zahlen und diese sind beunruhigend, weil sie wachsen. Während im Jahr 2013 noch 1,3 Prozent der Personen unter 18 Jahren die Diagnose ADHS erhalten haben, sind es 2023 schon 2,4 Prozent. Bei Autismus haben sich die Zahlen sogar von 0,9 Prozent auf 2 Prozent mehr als verdoppelt. Eine Inklusion in das gesellschaftliche Leben und das Arbeitsleben gewinnt daher dort zunehmend an Bedeutung.
Bis zu 85 Prozent der Menschen mit Autismus waren früher arbeitslos
Das gilt nicht nur für die internationale Ebene. In Deutschland befanden sich einer nicht repräsentativen Studie von Dalferth aus dem Jahr 2005 zufolge 40-50 Prozent der Personen aus dem Autismus-Spektrum in einer Werkstatt für behinderte Menschen. 43-50 Prozent der Betroffenen waren zum Zeitpunkt der Studie arbeitslos, lediglich 5-12 Prozent gingen einer Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nach (Dalferth 2014).
Bei Vorstellungsgesprächen konnten Autisten sich gar nicht erfolgreich „vermarkten“. Auch heute gilt für sie: Solche Menschen vermeiden Augenkontakt, lächeln kaum, haben eine andere Körpersprache. Konventionelle Vorstellungsgespräche sind auf neurotypische Menschen zugeschnitten. Autisten oder Menschen mit ADHS fallen dabei durchs Raster.
Menschen mit hochfunktionierendem Autismus (Asperger-Autismus) sind zielstrebig, loyal. Sie verfügen über eine besondere Aufmerksamkeit zu Details, sie haben eine ausgeprägte Logik, eine sehr gute Fähigkeit zur Mustererkennung und zu Problemlösungen. Sie sind innovativ und können in einigen Bereichen, etwa im IT-Bereich und der Robotik besser arbeiten als ihre neurotypischen Kolleg*innen. Autistische Arbeitnehmende brauchen aber Unterstützung bei der Vermittlung und der Tagesarbeit.
Vor 20 Jahren, also 2004, wurde das Nonprofit-Unternehmen Specialisterne in Dänemark gegründet. Sein Ziel war die Vermittlung von Menschen mit Autismus oder anderen neurodivergenten Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt. Gegenwärtig hat das Unternehmen seine Niederlassungen in 13 Staaten, unter anderen in Australien, Brasilien, Kanada, Indien, den USA. Dänemark war das erste Land in Europa, das eine nationale Strategie über Bildung und Beschäftigung von autistischen Menschen im Jahr 2006 verabschiedete. Innerhalb der vergangenen 20 Jahre vermittelte das Unternehmen mehr als 10.000 neurodivergente Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt in den verschiedensten Wirtschaftssektoren von IT bis zu Logistik, Fertigung, Museen usw.
Umdenken erforderlich
Ausgehend von der Erfahrung in Dänemark wurde 2008 in den USA Aspiritech, ein Unternehmen für die Softwaretestung, gegründet. Fast 90 Prozent seiner Mitarbeitenden sind Autisten. Um Kommunikationswege für Autisten anzupassen, werden Anweisungen für sie vorwiegend schriftlich statt mündlich kommuniziert. Und es gibt die Möglichkeit zu einem reduzierten Tages-Arbeitspensum: sechs bis maximal acht Stunden, für einige Arbeitnehmende sogar Teilzeit mit nur vier Stunden pro Tag – das ist für die USA eher unüblich. Im Unternehmen gibt es speziell ausgestattete Ruheräume, wo die Arbeitnehmenden sich von Reizüberflutungen erholen können.
Maxwell Huffman, Vizepräsident für Betriebsabläufe bei Aspiritech: „Es gibt so viele Arbeitskräfte mit Behinderungen, die wirklich enorm viel zu bieten haben, und die Unternehmen haben einfach nicht genug investiert, um diese Arbeitskräfte zu erschließen“, sagt Huffman. „Aber wenn sie es täten, würden sie erkennen, dass es sich um eine riesige Menge an ungenutztem Talent handelt und dass es sich um eine lohnende Investition handelt, die sich am Ende für diese Unternehmen auszahlt.“
Personalrecruiter sind häufig mit unbewussten Vorurteilen zu neurodivergenten und behinderten Bewerber*innen behaftet. Konventionelle Beurteilungssysteme stellen Barrieren für die Einstellung von neurodivergenten Menschen dar. In der deutschen Privatwirtschaft gibt es zu wenige Unternehmen, die bei sich ernsthaft und konsequent Inklusion durchführen.
2013 wurde in München die deutsche Niederlassung des dänischen Unternehmens Specialisterne eröffnet, vier Jahre später war sie schon wieder aufgelöst. Als zu kompliziert erwies sich die deutsche Unternehmenskultur für die Firma.
Ein anderes Unternehmen in Deutschland, dass sich auf die Beschäftigung von Autist*innen im IT-Sektor spezialisierte, ist dagegen sehr erfolgreich. 2011 wurde in Berlin von Dirk Müller-Remus die Auticon GmbH gegründet. Das Unternehmen wurde unterstützt durch den Ananda Social Venture Fund.
Nach dem Aufbau einiger Niederlassungen in Deutschland expandierte Auticon auch ins europäische Ausland und gründete Standorte in Frankreich, Großbritannien, Italien, der Schweiz, Norwegen, Finnland, Schweden, der Niederlande und Polen.
Isabelle Joswig, Inklusionsbeauftragte bei Google Deutschland, zieht in der Sache ein Fazit. Sie sagt, dass der Luxus von unzähligen jungen Talenten und Fachkräften schon lange vorbei sei und fordert ein Umdenken sowohl seitens der Privatwirtschaft als auch der öffentlichen Wirtschaft. Neurodiverse Eigenschaften müssten „endlich entstigmatisiert“ werden.
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