In Deutschland, auch in Münster, nimmt die soziale Ungleichheit seit Jahren zu. Warum ist das so und welche Bedeutung haben die „Zeitenwende“ mit ihrer zusätzlichen Rüstungsanstrengung, welche Rolle spielt unsere Wirtschaftsstruktur, welche die Eigentumsverhältnisse und warum gibt es keinen gerechten Verteilungsmechanismus?
SPERRE-Redakteur Werner Szybalski suchte Antworten beim Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, der sich als wissenschaftlicher Armuts- und Reichtumsforscher einen Namen gemacht hat. Butterwegge ist aber auch politisch und zudem meinungsfreudig, wie dieses Interview zeigt.
SPERRE: Du warst am 28. Mai dieses Jahres zufällig in Münster, als der französische Präsident Macron im Historischen Rathaus den mit 100.000 Euro dotierten Internationalen Preis des Westfälischen Friedens für besonderes Engagement für Frieden und Verständigung der Wirtschaftlichen Gesellschaft für Westfalen und Lippe erhielt. Kurz zuvor hatte Emmanuel Macron, um einen russischen Sieg in der Ukraine zu verhindern, nicht ausgeschlossen, dass sich französische Bodentruppen auf Seiten der Ukraine am Krieg beteiligen könnten. Passt diese Überlegung des Präsidenten zum Friedenspreis?
Christoph Butterwegge: Überhaupt nicht. Es sind wahrlich makabre Zeiten, in denen wir leben. Da wird dem französischen Präsidenten ein Friedenspreis verliehen, obwohl er den russisch-ukrainischen Krieg eskalieren und die Weltkriegsgefahr potenzieren will. Übrigens titelte die süddeutsche Zeitung genau zwei Monate später „Raketen für den Frieden“, kurz nachdem Olaf Scholz am Rande des jüngsten NATO-Gipfels der Stationierung von „abstandsfähigen Präzisionswaffen“ in Deutschland zugestimmt hatte, und meinte es nicht etwa ironisch.
Dabei hatte Helmut Schmidt, sein Vorvorgänger als sozialdemokratischer Bundeskanzler, schon in dem 1961 erschienenen Buch „Verteidigung oder Vergeltung“ erklärt, was die neue Aufrüstungsinitiative so abenteuerlich macht: „Landgestützte Raketen gehören nach Alaska, Labrador, Grönland oder in die Wüsten Libyens oder Vorderasiens, keineswegs aber in dicht besiedelte Gebiete; sie sind Anziehungspunkte für die nuklearen Raketen des Gegners. Alles, was Feuer auf sich zieht, ist für Staaten mit hoher Bevölkerungsdichte oder kleiner Fläche unerwünscht.“ Tatsächlich sind Raketen – militärisch gesehen – Magneten, die Gegenreaktionen herausfordern und die Kriegsgefahr erhöhen.
Deutschland rüstet massiv auf und will zudem wieder amerikanische atomar bestückbare Mittelstreckenwaffen stationieren. Aufrüstung kostet extrem viel Geld. Drängt sich die Frage auf, ob wir vor einer Entscheidung „Butter oder Kanonen“ stehen?
Christoph Butterwegge: Clemens Fuest, Chef des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, hat dies im Februar 2024 bei Maybrit Illner wie folgt begründet: „Kanonen und Butter, es wäre schön, wenn das ginge, aber das ist Schlaraffenland, das geht nicht.“
Da hat der neoliberale Ökonom ausnahmsweise mal recht: Sozial- oder Rüstungsstaat heißt in der Tat die Alternative, wenn das „Sondervermögen Bundeswehr“ 2027/28 ausgeschöpft ist und der Militäretat laut Scholz und Pistorius schlagartig um 20, 25 oder 30 Milliarden Euro steigen muss, um das anvisierte Ziel von „mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts“ zu erreichen.
Schon wegen meines Familiennamens fordere ich: Butter statt Kanonen! Ich denke dabei in erster Linie an die Armen und sozial Benachteiligten, Fuest hingegen an die Reichen, etwa die (Groß-)Aktionäre der Rüstungskonzerne. Sinnvoller als zusätzliche Rüstungsprojekte wären Mehrausgaben im Sozial- und Gesundheitsbereich, um Obdach- und Wohnungslosigkeit zu bekämpfen, den öffentlichen Wohnungsbau wiederzubeleben, der Kinderarmut entgegenzuwirken, den Pflegenotstand zu beseitigen und die Alterssicherung für abhängig Beschäftigte wieder auf eine solide Finanzierungsgrundlage zu stellen.
Zu befürchten ist jedoch, dass sich Wohnungsnot sowie Energie- und Ernährungsarmut infolge einer unsozialen „Sparpolitik“ ausbreiten. Denn die stark gestiegenen Preise für Gas und Strom, aber auch bei Grundnahrungsmitteln wie Brot, Mehl, Speiseöl, Eiern oder Nudeln, bedeuten für Menschen, die schon vor dem Ukrainekrieg kaum über die Runden kamen, dass sie den Gürtel noch enger schnallen müssen. Die große Mehrheit der Bevölkerung kann sich staatliche Austerität nicht leisten.
Münster ist eine reiche Stadt, in der die Armut relativ gut versteckt ist. Woran liegt es, dass sich in gut situierten bürgerlich-konservativen – in Münster kommt sicherlich noch katholisch geprägten hinzu – Städten sich von Armut bedrohte und natürlich auch die in Armut lebenden Menschen nicht offener zeigen?
Christoph Butterwegge: Da man die Armen hierzulande in aller Regel selbst für ihre soziale Misere verantwortlich macht, statt in der wachsenden Ungleichheit ein strukturelles Problem zu sehen, schämen sich die Betroffenen. In der Öffentlichkeit gelten sie als „Drückeberger“, „Faulenzer“ und „Sozialschmarotzer“, die „uns Steuerzahlern“ auf der Tasche liegen. Wer so tituliert und in fast allen Lebensbereichen diskriminiert wird, resigniert meist und versteckt sich lieber so gut es geht, was es übrigens schwerer macht, Armut und soziale Ungleichheit zu bekämpfen.
Was ist unter „absoluter“ und „relativer Armut“ zu verstehen?
Christoph Butterwegge: Es gibt keine allgemein verbindliche Definition von Armut, sondern in der Fachliteratur bloß den Versuch, das Problem durch die Unterscheidung zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut einerseits sowie relativer Armut andererseits zu klären.
Von absoluter Armut ist betroffen, wer seine Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also die für das Überleben notwendigen Nahrungsmittel, sicheres Trinkwasser, eine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung und Wohnung sowie eine medizinische Basisversorgung entbehrt.
Von relativer Armut ist betroffen, wer sich vieles von dem nicht leisten kann, was für fast alle übrigen Mitglieder einer wohlhabenden Gesellschaft als normal gilt, also mal ins Kino oder ins Theater zu gehen, aber auch, sich mit Freunden im Restaurant zu treffen. Während die absolute Armut eine existenzielle Mangelerscheinung ist, verweist die relative Armut auf den Wohlstand, der sie hervorbringt. In einer so reichen Gesellschaft wie der unseren ist Armut nicht gott – oder naturgegeben, sondern vorwiegend systemisch, dass heißt durch die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse bedingt.
Welche Gruppen in Deutschland sind warum besonders von Armut betroffen? Reicht der Mindestlohn, um Armut zu entkommen?
Christoph Butterwegge: Besonders vulnerable Personengruppen können sich den bestehenden Verhältnissen schwer entziehen, weil sie aufgrund ihrer schwachen Stellung in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung strukturell benachteiligt oder diskriminiert werden.
Waren nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst vor allem viele Rentnerinnen arm, bis die Große Rentenreform 1957 das Problem abmilderte, lösten Kinder und Jugendliche sie in den späten 1980er-Jahren als Hauptbetroffenengruppe ab. Mit der Agenda 2010 und Hartz IV hat sich die Situation insofern verändert, als die rot-grüne Reformpolitik die Lage von Millionen Langzeit- bzw. Dauererwerbslosen und ihren Familien spürbar verschlechtert hat und besonders das Abdrängen der Langzeiterwerbslosen, die vorher Arbeitslosenhilfe erhalten hatten, in den Fürsorgebereich mit seinen für alle gleich niedrigen Transferleistungen hat dazu beigetragen, dass sich die Kinderarmut beinahe verdoppelte.
Noch immer spielt der Niedriglohnsektor als Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien- und Kinderarmut wie für spätere Altersarmut eine Schlüsselrolle. Der gesetzliche Mindestlohn schottet den Niedriglohnsektor nach unten ab, bringt ihn jedoch bisher nicht zum Verschwinden.
Die Kürzungen im Bundeshaushalt 2025 wirken sich auch direkt auf Münster und dessen Jobcenter aus. Wegen der Streichungen werden insbesondere Mittel für Langzeitarbeitslose knapp, die 1-Euro-Jobs oder eine Arbeitsgelegenheit gemäß § 16i SGB II haben. Bei Asyl-Suchenden und Langzeitarbeitslosen wird gekürzt und das Bürgergeld 2025 nicht erhöht – geht der Sozialstaat vor die Hunde?
Christoph Butterwegge: Zwar hat Olaf Scholz auf dem letzten SPD-Bundesparteitag im Dezember 2023 unter lautem Beifall der Delegierten versprochen, dass es keinen Abbau des Sozialstaates geben werde. Gleichwohl folgt der außen-, energie- und militärpolitischen Zeitenwende, die Scholz zu Beginn des Ukrainekrieges ausgerufen hat, jetzt mit leichter Verzögerung eine wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Zeitenwende.
Das erste Opfer der sozialpolitischen Zeitenwende war die Kindergrundsicherung, aber weitere Maßnahmen, die Armen und Angehörigen der unteren Mittelschicht besonders schaden, dürften folgen, es sei denn, dass sich massiver Widerstand regt.
Stichwort Kinderarmut. Warum werden reiche Eltern häufig besser von der Bundesregierung unterstützt als Erziehungsberechtigte von armen oder von Armut bedrohten Kindern?
Christoph Butterwegge: Wer reich ist, ist auch politisch einflussreich. Das sieht man am deutlichsten an der Steuergesetzgebung, die Scheunentoren gleichende Schlupflöcher für Kapitaleigentümer geschaffen hat. Hingegen fehlt den Armen eine Lobby, die mächtig genug ist, um die Gesetzgebung in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Ist „Umverteilung des Reichtums“, der Titel Deines jüngsten Buches, die Lösung?
Christoph Butterwegge: Aufgrund der bestehenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen werden die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher.
Tagtäglich findet Umverteilung statt – allerdings nicht von Oben (den viel Besitzenden) nach Unten (den hart Arbeitenden), sondern von Unten nach Oben: Unternehmensprofite, Veräußerungs- und Kursgewinne der Aktionäre, Dividenden, Zinsen sowie Miet- und Pachterlöse von Immobilienkonzernen fließen überwiegend in die Taschen materiell Bessergestellter, sind aber normalerweise von Menschen erarbeitet worden, die erheblich weniger Geld haben, oft nicht einmal genug, um in Würde leben zu können.
Deshalb muss Umverteilung künftig in die entgegengesetzte Richtung stattfinden – als Rückverteilung des Reichtums von Oben nach Unten, also zu denjenigen Menschen, die ihn geschaffen und nicht geerbt haben. Der wichtigste Hebel dafür ist eine andere Steuerpolitik, die Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche stärker belasten müsste, um eine konsequente Armutsprävention und -bekämpfung des Staates zu finanzieren, die viel Geld kostet. Will man die soziale Ungleichheit nicht bloß reduzieren, sondern darüber hinaus die Entstehung weiterer Ungleichheit dauerhaft verhindern, muss man auch ihre strukturellen Ursachen beseitigen und das kapitalistische Gesellschaftssystem überwinden.
Du bist zwar nicht Mitglied, warst aber Kandidat der Linkspartei bei der Bundespräsidentenwahl 2017. Inzwischen zeigt DIE LINKE – nicht erst als sich die Bundestagsfraktion spaltete – vielerorts Auflösungserscheinungen. Woran liegt das?
Christoph Butterwegge: Das hat sicher viele Gründe. Einer ist der, dass Die LINKE nicht mehr als konsequente Interessenvertreterin der sozial Benachteiligten wahrgenommen wird und auch weder zum Ukrainekrieg noch zu den Waffenlieferungen und den Sanktionen klar genug Stellung genommen hat.
Habituell fühlen sich eher Angehörige der urbanen Mittelschicht von der Partei angesprochen, die nach den verheerenden Wahlniederlagen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg um ihre Fortexistenz bangen muss.
Deine Frau Carolin Butterwegge ist Mitglied im Bündnis Sahra Wagenknecht. Ist das BSW auch für Dich eine mögliche politische Heimat?
Christoph Butterwegge: Nein. Ich fühle mich weiterhin als ideeller Gesamtlinker, der keiner Partei beitritt, sondern für ein breites Bündnis wirbt, in dem BSW-Anhängerinnen und -Anhänger ebenso ihren Platz haben müssen wie Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Grüne und LINKE. Auch in den „bürgerlichen“ Parteien CDU, CSU und FDP gibt es übrigens viele Mitglieder, die für mehr soziale Gerechtigkeit eintreten, ohne dass ihre Führungen dem Rechnung tragen.
2025 wird ein neuer Bundestag gewählt. Die Ampelkoalition ist selbst für den ehemaligen grünen Parteichef Omid Nouripour bereits vor ihrem Aus nur eine „Übergangsregierung“ gewesen. Woran ist die Koalition von SPD, Grünen und SPD gescheitert und warum ist trotz einiger eingeführter sozialer Verbesserungen wie der Anhebung des Mindestlohns oder Einführung des Bürgergeldes die Meinung bei den abgehängten Menschen in Deutschland zur Ampel so schlecht?
Christoph Butterwegge: Man hat etwa beim Bürgergeld durch die Verschärfung der Sanktionen und Leistungskürzungen eine Rolle rückwärts vollzogen und ist von einer „Fortschritts-“ zu einer sozialpolitischen „Rückschritts“-Koalition geworden.
Statt die Armen im eigenen Land stärker zu unterstützen, haben SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP allein in diesem Jahr acht Milliarden Euro für Militärhilfe an die Ukraine ausgegeben. Daher muss die soziale Frage inhaltlich mit der Friedensfrage verbunden, der außerparlamentarische Druck auf die Regierenden erhöht und der Widerstand durch gemeinsame Aktionen von Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Globalisierungskritikern sowie Klimagerechtigkeits- und Friedensbewegung gestärkt werden. Gelingen kann das, weil die Zahl derjenigen gewaltig ansteigen dürfte, die „den Gürtel enger schnallen“ müssen, obwohl er ihnen schon auf den Knochen sitzt, damit Deutschland nach den Wünschen „kriegstüchtig“ wird.
Wohlstandseinbußen, die Millionen Menschen weit über den Kreis der Transferleistungsbezieherinnen und -bezieher hinaus treffen, denen die FDP keine Erhöhung der Regelbedarfe mehr zugestehen will, bleiben nicht folgenlos. Arme versetzt diese Politik in einen sozialen Ausnahmezustand, aber auch die Mittelschicht gerät zunehmend unter Druck.
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