Das Losverfahren könnte die bisherige Regierungsform sinnvoll ergänzen
Worauf warten wir? Die nächsten Wahlen? Auf die Veröffentlichung über die nächsten Paradise oder Panama Papers, die unsere Vorbehalte, unsere Wut oder unser Desinteresse gegenüber allem Politischen verstärken? Oder dann doch lieber auf Ideen, auf Denkanstöße und neue Initiativen, die zumindest Aussichten auf ein verbessertes „Weiter so“ erkennen lassen?
In der Herbstausgabe der Print-Sperre wurde eine Idee vorgestellt, wie unsere demokratisch verfasste Gesellschaft weiter entwickelt werden könnte. Das zu tun, dafür gibt es gute Gründe: sei es, weil diese in postmodernen Zeiten an ihre Grenzen gestoßen ist, sei es, dass die Demokratien der vergangenen 200 Jahre mit Unzulänglichkeiten verbunden waren, da sie sich Geltung und Unterstützung ausnahmslos mit Wahl- und Abstimmungsprozeduren verschafft haben. Die im letzten Heft vorgestellte Idee war die des Losverfahrens.
Was dort der sparsamen Erläuterungen wegen als spleeniges Hirngespinst erscheinen konnte, soll nun in einem zweiten Teil zum Thema ausführlicher behandelt werden. Dazu sei wiederum auf das Buch von David van Reybrouck mit dem Titel „Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ hingewiesen.
Das Losverfahren ist ein uraltes, in Vergessenheit geratenes demokratisches Instrument
Als Wiege der Demokratie gilt das politische System des antiken Athen. Dieses ging nicht aus einer Theorie hervor, sondern aus Erfahrung. Die meisten politischen Ämter wurden per Losverfahren, nicht durch Wahlen bestimmt.
Das Losverfahren hatte seine Vorteile: So wurde der persönliche Einfluss vermindert, der zum Beispiel Bestechungsskandale zu verhindern half. Da auf allen politischen Ebenen die Bürger*innen so oft wie möglich wechseln sollten, wurde eine relativ große Anzahl an Mitgliedern der Bevölkerung in die Prozesse eingebunden. Das wiederum entsprach dem Gleichheitsprinzip und förderte es zudem. Auslosung und Rotation, nicht Wahlen gehörten zum wesentlichen Merkmal des demokratischen Systems der Athener Stadtgesellschaft. Dabei ging man pragmatisch, nicht dogmatisch vor. Um die nötige Professionalität der Amtspersonen zu gewährleisten, wurden die höchsten Ämter durch Wahlen besetzt. Auf heutige Verhältnisse angewendet, bedeutete das: Abgeordnete würden ausgelost werden, Regierungsvertreter*innen aus deren Versammlungen heraus gewählt.
Uns lässt ein solches Vorgehen heute erstaunen, doch für die damaligen Menschen war das Losverfahren eine Selbstverständlichkeit. Der Philosoph Aristoteles, selbst ein Befürworter einer Mischform von Losverfahren und Wahlen, nannte Ersteres demokratisch und Letzteres undemokratisch. Über Sparta, dem großen Gegenspieler Athens, schrieb er, dass dessen Verfassung viel Oligarchisches an sich hätte, da alle Staatsbeamt*innen durch Wahl und keiner durch Los bestimmt würden.
Die heutige Demokratie ausschließlich mit Wahlverfahren in Verbindung zu setzen, ist also eher eine historische und gedankliche Kurzsicht. Stichwort Historie: Im alten Rom waren noch einige Aspekte des Lossystems in Gebrauch, welche jedoch unter den römischen Kaisern beseitigt wurden. Erst wieder im Zeitalter der Renaissance („Wiedergeburt“, das heißt das Zurückgreifen auf antike Lebensformen) wurden die demokratischen Ursprünge erinnert. Hier sind an erster Stelle die norditalienischen Stadtstaaten im 13. und 14. Jahrhundert zu nennen. Am besten dokumentiert sind die Städte Venedig und Florenz. Nun war die Republik Venedig mitnichten eine Demokratie, sondern eine Stadt, in denen einige mächtige aristokratische Familien mit ein paar tausend Adligen herrschten. Um Streitigkeiten zwischen diesen zu vermeiden, wurde das Staatsoberhaupt („Doge“) durch Losverfahren bestimmt – ergänzt durch Wahlen – um eine kompetente Persönlichkeit in die angestrebte Position zu bringen. In Florenz hingegen entschied nicht das Los über das Staatsoberhaupt, dafür aber über nahezu alle Verwaltungs- und Regierungsämter, also die ausführende Gewalt.
Dieser geschichtlich kurze Einblick bringt zudem Folgendes ans Licht: Das Losverfahren ist ursprünglich ein vollwertiges politisches Instrument zur Willensbildung gewesen und war durch verschiedene Verfahren und Anwendungen so angelegt, dass eine größere Beteiligung der Bürger*innen gewährleistet war, was für weniger Konflikte sorgte. Politische Gemeinschaften, die diesen Weg gingen, erlebten in der Regel eine im Vergleich größere Stabilität, und dies über einen längeren Zeitraum. Dabei stand es nie allein, sondern wurde immer in Verbindung mit Wahlen praktiziert, um Kompetenz zu garantieren.
Wie konnten diese wichtigen Fakten in Vergessenheit geraten, zumal in einem Zeitalter, das sich das demokratische nennt? Dazu ein Zitat des französischen Politologen Bernard Manin: „Gegenwärtige demokratische Systeme sind aus einer politischen Ordnung hervorgegangen, die von ihren Begründern als Gegenentwurf zur Demokratie gedacht war. Gleich nach den Revolutionen in Amerika und Frankreich entschied man sich für das lediglich auf Wahlen basierende System. Und zwar: um den Tumult der Demokratie vor der Tür zu halten. Ein System, errichtet im vollen Bewusstsein, dass die gewählten Vertreter, sich sozial von ihren Wählern abhoben, ein aristokratischer Reflex, der unserer modernen Demokratie zugrunde liegt.“
Das demokratische Losverfahren wird angewandt – Warum jedoch wenig darüber an die Öffentlichkeit gelangt und seinen Zweck verfehlt
In den letzten Jahren sind bemerkenswerte Mitbestimmungsprozesse in Gang gekommen, die jeweils Wahlgesetzreformen oder auch ganze Verfassungsänderungen angestoßen haben – Reformen, die den Kern der Demokratie betreffen. (Nicht gemeint sind hier Beteiligungsrechte, etwa bei konkreten Bauvorhaben, die natürlich auch ihre Berechtigung haben.)
Im Jahr 2004 hat der kanadische Bundesstaat British Columbia eine Reform des Wahlgesetzes einer zufällig ausgelosten Gruppe von 160 Bürger*innen anvertraut. Dem britischen Wahlgesetz angelehnt gilt auch dort das Mehrheitswahlrecht, bei dem im Gegensatz zum Verhältniswahlrecht die Stimmanteile der unterlegenden Kandidat*innen unberücksichtigt bleiben, so knapp das Ergebnis auch ausfallen mag. Mehrheitsfähigen Parteien, also zukünftigen Entscheider*innen, ist das Ändern der Wahlspielregeln ein zu heißes Eisen, da sie befürchten, durch neue Vorschläge nur zu verlieren.
Konkret lief es so ab: Ein großer Pool wurde aus den Wählerverzeichnissen ausgelost. Wer interessiert war, wurde zu einem Infoabend geladen, um bei weiterem Engagement für die nächste Stufe zu kandidieren, als Anwärter*innen auf den nächsten Losentscheid, wobei auf eine gleichmäßige Verteilung von Alter, Geschlecht und anderen Eigenschaften geachtet wurde. An verschiedenen Orten wurde zwischen neun und zwölf Monaten beraten, wobei jede/r Teilnehmer*in die Gelegenheit erhielt, sich mit Hilfe von Unterlagen und Expert*innen in die Materie einzuarbeiten.
Ähnlich gewichtige Mitbestimmungen gab es in den jüngsten zehn Jahren noch in den Niederlanden, Island und Irland. Doch wie war es möglich, dass in allen Fällen der Einfluss auf die Politik ausblieb? In Kanada musste das Ergebnis noch in einem Referendum bestätigt werden. Diese Hürde der Volksbefragung wurde aber nicht genommen und innerhalb eines Tages wurden die Ergebnisse monatelanger Arbeit durch die Abstimmung zunichte gemacht. Anscheinend besitzt das Losverfahren noch zu wenig Vertrauen, um als demokratisches Instrument erst genommen zu werden. Ein Aspekt ist in diesem Zusammenhang wichtig: Da in beiden Fällen die Meinung der Normalbürger gefragt ist, könnten Referenden schnell mit dem oben beschriebenen Verfahren in einen Topf geworfen werden. Nur, bei einem Referendum sind alle aufgefordert, über ein Thema zu bestimmen, mit mehr oder aber weniger großer Kenntnis, während bei einer zufällig repräsentativen Stichprobe von Menschen Beratungsgruppen entstehen, die alle möglichen Informationen zu einer Entscheidungsfindung erhalten. Kurz gesagt, in einem Fall entscheidet oft das Bauchgefühl, dort eine aufgeklärte öffentliche Meinung.
Die Gruppe ausgewählter Bürger*innen muss im Einzelfall anschließend nach langer und intensiver Beratung ans Licht der Öffentlichkeit treten und ihr Ergebnis präsentieren. Ein denkbar schwieriger Prozess, wo sich doch Presse und gemeine Politik in einem Vorrecht wähnen, wenn öffentliche Meinung ab- und nachgefragt wird. Nicht nur die Bürger*innen misstrauen ihren Politiker*innen, auch die Politiker*innen vergrößern ihrerseits den Abstand zu ihnen durch entgegengesetztes Misstrauen. Nicht verwunderlich, wenn Mitbestimmung dieser Art bereits aus Prinzip mit Skepsis betrachtet wird. Nicht anders die Medien. Die ausgelosten Bürger*innen haben keine bekannten Gesichter, sind keine Führungsfiguren, sitzen nur an runden Tischen, nicht in Talkshows, und keine Kamera richtet ihr Objektiv auf sie, wenn sie etwa auf Balkone treten, um ihre Beratungen zu unterbrechen. Auch das erklärt die mediale Zurückhaltung gegenüber diesem Thema.
Demokratische Erneuerung jetzt
„Man sagt, das Leben jedes wichtigen Gedankens kenne drei Phasen. Zuerst wird er ignoriert. Dann wird er lächerlich gemacht. Und schließlich wird er zur allgemein anerkannten Weisheit.“ (Anthony Barnett & Peter Carty, The Athenian Option) Noch sind die Vorbehalte groß, der Gedanke zu frisch, das Losverfahren als unverzichtbare Komponente jener Regierungsform zu akzeptieren, die sich demokratisch nennen will.
Der meist vorgetragene Einwand richtet sich gegen die vermutete Inkompetenz Nicht-Gewählter. Eine ausgeloste Volksvertretung würde jedoch nicht allein auf sich gestellt sein, auch sie könnte Mitarbeiter*innen zur Seite gestellt bekommen, so wie es heute bei den gewählten Vertreter*innen üblich ist, zudem einen Expertenrat hinzuziehen. Und durch das Losverfahren bekäme man einen wesentlich repräsentativeren Querschnitt der Bürger*innen einer Gesellschaft.
Auch eine Form der Inkompetenz ist es, als hochausgebildeter Jurist oder Ökonom, was die meisten Parlamentarier*innen heute als Beruf angeben, beim Milch- oder Brotpreis ins Grübeln zu kommen, weil ihnen die Verbundenheit zum Alltagsgeschehen des gemeinen Volkes abhanden gekommen ist. Und ist es so nicht allzu verständlich, dass viele Politiker*innen dem Lobbyeinfluss großer mächtiger Interessensgruppen erliegen, das Mitspracherecht des normalen Bürgers jedoch mit skeptischem Blick betrachten? Interessant zu beobachten, dass zumeist dieselben Gründe gegen ausgeloste Bürger*innen vorgebracht werden wie sie vor Zeiten gegen das Wahlrecht von Arbeiter*innen, Bauern oder Frauen.
Viele hoch entwickelte Länder des sogenannten Westens befinden sich in einer politisch beunruhigenden Situation. Deren wichtigsten demokratischen Institutionen verlieren an Zustimmung und Unterstützung, das Misstrauen ihnen gegenüber wird größer von Wahl zu Wahl. Sicherlich, heute gibt es Formen der Mitsprache, die es früher nicht gab. Beschwerden können an Ombudsstellen gerichtet werden, Meinungen werden von Zeit zu Zeit in Referenden abgerufen, genügend Unterschriften bringen Bürger*inneninitiativen ans Laufen. Das sind alles neuartige und sinnvolle Möglichkeiten. Dennoch scheinen sie immer mehr Bürger*innen nicht auszureichen. Sie werden das Gefühl nicht los, an den wirklich wichtigen politischen Entscheidungen nicht oder nur unzureichend teilhaben zu können.
Populismus, Antiparlamentarismus, technokratische Regierungsformen – sie alle gefährden die Demokratie. Der Wille zu Teilhabe der Bürger*innen reicht heute nicht mehr aus, zumal, wenn dieser in Anbetracht mangelnder Voraussetzungen in Frustration umschlägt. Die alleinige Konzentration auf Wahlen ist daher eine systembedingte Fehlkonstruktion, wenn hinreichend demokratische Zustände das Ziel sein sollen. Das Losverfahren als ergänzendes Verfahren wäre weder eine Revolution noch ein Griff in die Mottenkiste der Geschichte, sondern das Aufgreifen einer in Vergessenheit geratenen Selbstverständlichkeit.
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