Rezension von Arnold Voskamp
In Deutschland fehlen eine Million Wohnungen – Tendenz steigend. Im Sammelband „Ohne Wohnung in Deutschland“ gucken Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen aus verschiedenen Richtungen auf dieses sich stetig verschärfende Problem.
Wohnungsnot trifft besonders einkommensarme Menschen. Ausmaß und Zunahme von Armut – und Reichtum als ihrer Kehrseite – stellen mehrere Wissenschaftler*innen dar. Die Rolle des Reichtums in der Wohnungsfrage steht nicht in dem Buch – eine große Lücke. Mit der Veränderung ihrer Schwerpunkte schuf die Wohnungspolitik vor 30, 35 Jahren beste Voraussetzungen für das Investieren in Betongold und vermieterfreundliches Mietrecht. Die Gemeinnützigkeit im Wohnungswesen wurde abgeschafft, staatliche Wohnungsgesellschaften an private Investmentgesellschaften verkauft. Der Markt würde es richten, so lautete das neue Credo.
Praktiker*innen beschreiben in dem Buch verletzliche Gruppen: psychisch kranke Frauen, alte wohnungslose Männer, arme arbeitsuchende EU-Bürger*innen. Und die Strukturen der Wohnungslosenhilfe: Wie sehen Hilfesysteme zur Vermeidung von Obdachlosigkeit aus? Die Unterbringung von Obdachlosen unterliegt dem Polizeirecht. Wie ist mit Gewalt und Rassismus in den Einrichtungen umzugehen, wie prägt „Scham“ die Beziehung zu Klient*innen, wie ist Selbstorganisation zu stärken?
Der Sommer der Migration 2015 in Deutschland ist in diesem Zusammenhang unter zwei Gesichtspunkten bemerkenswert: Wohnungslosenhilfe war schon vorher eine große Aufgabe. Sie hat sich kurzzeitig vergrößert, aber ihre Themen blieben gleich. Sichtbar wurde andererseits eine erhebliche Leistungsfähigkeit des Staates und der Gesellschaft, für die Geflüchteten kurzfristig Unterkünfte zu schaffen und Hilfe zu leisten. Wohnungslose und ihre Sozialarbeiter*innen hätten sich ebenfalls über eine solche Unterstützung gefreut.
Und schließlich: Kann es sein, dass schon eine Wohnung zu haben, für viele Betroffene die Lösung wäre? Die Wohnungsbeschaffung und -versorgung selbst wieder zum Thema zu machen und das Problem nicht nur bei den Wohnungslosen zu suchen, greifen mehrere Beiträge auf. Praktische Ansätze aus der Kommunalpolitik (Karlsruhe) und aus der Wohlfahrt setzen auf Normal-Mietverhältnisse mit Wohnungslosen – neu gebaut oder im Bestand vermischt mit „normaler“ Bevölkerung (ein Beispiel: „Housing First“).
Stefan Gillich, Rolf Keicher (Hg.), Ohne Wohnung in Deutschland, Armut, Migration und Wohnungslosigkeit, Lambertus-Verlag, Freiburg, 2017
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