Über die Folgen der Ökonomisierung im Gesundheitssystem
Ein Gastbeitrag von Jürgen Kemper
Wo früher eine Pflegekraft eine Stunde Zeit für eine(n) Patienten*in oder Heimbewohner*in hatte, bleiben heute nur wenige Minuten für eine körperliche Minimalversorgung. Wer sich nicht aus privaten Mitteln zusätzliche Hilfen leisten kann, ist entweder auf die immer weiter reduzierte öffentliche Gesundheitsversorgung angewiesen oder erhält Hilfe von privaten Organisationen, die auf Profit ausgerichtet sind.
Menschen mit höherem Einkommen haben im deutschen Gesundheitswesen wenige Probleme. Sie können zwar Anstoß nehmen an der bürokratischen Kostenabrechnung, falls sie beihilfeberechtigt sind. Manche(r) von ihnen mag sich auch sorgen, die bevorzugte Behandlung zu verlieren, wenn die Gebührenordnungen für Privat- und Kassenpatienten, wie bereits öfters diskutiert, tatsächlich angeglichen werden. Bisher jedoch bekommen Privatversicherte eher Arzttermine, haben die volle freie Arztwahl und können sich im Alter jedwede Betreuung sichern, indem sie sie privat bezahlen.
Die Menschen mit niedrigem oder gar keinem Einkommen leiden dagegen unter dem Ärztemangel auf dem Lande, den Wartezeiten auf Arzttermine und in den Wartezimmern, dem Mangel an Pflegekräften in Heimen und Krankenhäusern oder an den Zuzahlungen bei Zahnersatz und Pflegekosten. Im Gegensatz zu den reichen Schichten der Bevölkerung können sie sich oft keine Sehhilfen leisten, bekommen nur einfache, billige Hörhilfen, wenig komfortable Rollatoren und nicht immer den notwendigen Zahnersatz, da der sehr teuer ist. Verschreibungsfreie Medikamente können sie häufig nicht bezahlen, auch wenn sie notwendig sind. Die vorgesehenen Zuzahlungen zu Heil- und Hilfsmitteln und bei Krankenhaus-, Reha- und Kurmaßnahmen fallen ihnen schwer, bis die Befreiungsgrenze erreicht ist.
Nicht die Versicherten zählen, sondern allein die Kosten
Die vielen Maßnahmen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen haben dazu geführt, dass auch die oberen Etagen der Krankenkassen das Sparen verinnerlicht haben. Sie fragen nicht: „Was kann ich für meine Versicherten tun?“, sondern: „Wie können wir die Ausgaben reduzieren oder zumindest eindämmen?“
Der Prozess von der Teilprivatisierung des Krankenhauswesens und der Heimleistungen bis zu deren vollständigen Privatisierung ist weit fortgeschritten. Die ausgegliederten Bereiche sind meist nicht an Tarifverträge gebunden, an der Bezahlung der Beschäftigten wird gespart. Einsparungen von Kosten sind meistens gleichbedeutend mit Einsparungen bei den Gehältern.
Der aktuelle Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD sieht vor, dass Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend zum Tragen kommen. Dafür soll gemeinsam mit den Tarifparteien gesorgt werden. Wie das geschehen soll, wenn der Staat sich gemäß dem neoliberalen Modell weitgehend aus allen Entscheidungen heraushält, bleibt unklar.
Leichte Verbesserungen versprechen sich die Koalitionäre von der Einsetzung einer Kommission, die eine Angleichung der Gebührenordnungen erarbeiten soll. Der Zuschuss zum Zahnersatz soll von 50 auf 60 Prozent steigen, und die Vermittlung von Arztterminen soll auch bei Haus- und Kinderärzten durch die Terminservicestellen – dann zwischen 8 und 18 Uhr – erfolgen.
Mehr Stellen für nicht vorhandene Pflegekräfte
Auch 13.000 zusätzliche Stellen für Pflegekräfte in den Heimen will die große Koalition schaffen. Das bedeutet weniger als eine zusätzliche Stelle pro Einrichtung. Wo sollen eigentlich diese Pflegekräfte herkommen? Schon jetzt sind die vielen offenen Stellen nicht zu besetzen. Man bräuchte viel mehr Ausbildungsplätze für Pflegekräfte und weit mehr zusätzliche Stellen in den Heimen. Zum Teil werden schon jetzt Pflegefachkräfte aus dem Ausland angeworben, die dann dem dortigen Gesundheitswesen fehlen.
Das Sofortprogramm des Gesundheitsministeriums, das diesen Punkt gemäß der Koalitionsvereinbarung beinhaltet, sieht vor, die zusätzlichen Pflegestellen im Krankenhaus und Tarifsteigerungen von den Kostenträgern, das heißt in der Regel von den Krankenkassen, zu refinanzieren. Ein Anreiz, mehr auszubilden, soll dadurch geschaffen werden, dass die Ausbildungsvergütungen in der Kranken- und Altenpflege im ersten Ausbildungsjahr auch von den Krankenkassen getragen werden. Mithilfe eines komplexen Bewertungssystems sollen erhöhte Pflegeaufwendungen nachgewiesen und dafür den Krankenhäusern zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Als erster Gesetzentwurf zur Verbesserung der Pflege wurde von dem Bundesgesundheitsministerium das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz vorgestellt und inzwischen vom Bundestag beschlossen. Nach Ermittlung des Pflegeaufwandes sollen ab 2020 Personaluntergrenzen gelten. Durch diese Vorgaben können jedoch keine Pflegefachkräfte herbeigezaubert werden, zumal sie derzeit am Arbeitsmarkt nicht verfügbar sind (siehe oben).
Sündenfall Fallpauschale
2004 wurden zur Abrechnung der Behandlungskosten in den Krankenhäusern „diagnosebezogene Fallgruppen“ eingeführt. Jedes Krankenhaus bekommt für die gleiche Diagnose eine bestimmte Geldmenge unabhängig von dem individuellen Behandlungsbedarf vergütet. Diese Fallpauschalen sind maßgeblich für die radikale Ökonomisierung in den Krankenhäusern verantwortlich. Laut Pflegepersonal-Stärkungsgesetz ist geplant, die Pflegekosten aus den Fallpauschalen herauszunehmen. Zuvor sollen die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Spitzenverbände der gesetzlichen und privaten Krankenkassen eine eindeutige, bundeseinheitliche Definition der auszugliedernden Pflegepersonalkosten vereinbaren. Ob dieses Vorgehen ein Schritt in die richtige Richtung sein wird, muss sich zeigen. Nur wenn dadurch wirklich mehr Geld für die Pflege zur Verfügung steht, ist eine Besserung möglich. Dazu macht das Gesetz aber leider keine Vorgaben.
Es kann sich nur etwas zum Guten verändern, wenn der Staat wieder stärker gestalterisch tätig wird. Das übermäßige Setzen auf den freien Markt hat nur zu mehr Arbeitshetze, Unzufriedenheit der Beschäftigten und – beispielsweise durch die Schließung von Krankenpflegeschulen – zu dem Mangel geführt, der jetzt beklagt wird.
Der Autor Jürgen Kemper, Dr. med. und Diplom-Psychologe, ist Mitglied der attac-Regionalgruppe Münster, für die er diesen Beitrag ursprünglich verfasst hat. Die Regionalgruppe trifft sich an jedem zweiten Montag im Monat um 19.30 Uhr im ITP, Friedrich-Ebert-Straße 7 (Eingang im Hof).
Weitere Informationen:
• Das Gesundheitssystem wird mehr und mehr zur privatisierten Gesundheitswirtschaft. Der damit verbundene ökonomische Druck, Gewinne zu erzielen, erhöht den Arbeitsstress für die Beschäftigten und die Eigenleistungen, die die Patient*innen zusätzlich erbringen müssen. An die Stelle des Staates treten zunehmend Investoren, die Einrichtungen wie beispielsweise Kliniken mit hohen Renditeerwartungen übernehmen.
• Von dem Prinzip der Solidarversicherung hat sich die gesetzliche Krankenversicherung zusehends entfernt. Um Beitragserhöhungen zu begrenzen, wurden Selbstbeteiligungen der Erkrankten eingeführt. Rezeptgebühr, Zuzahlungen, „individuelle Gesundheitsleistungen“ (die oft überflüssig oder fragwürdig sind) und teilweise Beitragserhöhungen: Sie alle sind vom einzelnen Patienten zu tragen und nicht von der Solidargemeinschaft.
• Das Statistische Bundesamt (Destatis) prognostiziert für 2017 einen Anstieg der Gesundheitsausgaben in Deutschland von 4,9 Prozent gegenüber 2016 auf 374,2 Milliarden Euro. Damit wurde im Vorjahr erstmalig mehr als eine Milliarde Euro pro Tag im nationalen Gesundheitssystem umgesetzt. Von 2015 zu 2016 wuchsen die Ausgaben um 3,8 Prozent auf 356,5 Milliarden Euro; das sind pro Einwohner*in 4330 Euro. Die Gesundheitskosten hatten einen Anteil von 11,3 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die höhere Wachstumsrate für 2017 erkläre sich durch das Inkrafttreten des dritten Pflegestärkungsgesetzes am 1. Januar 2017, so die Bundesstatistiker.
https://www.taz.de/Privatisierung-des-Gesundheitswesens/!5544982/
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