Arbeit Arbeit und Soziales

Arbeitslose und Ausländer als Retter in der Not

Arbeitsvermittler Christian König und seine Sicht auf den Fachkräftemangel

Von Hans Römer Santaella

Trotz des aktuellen Fachkräftemangels waren in Deutschland noch nie so viele Menschen in Lohn und Brot. Laut Bundesagentur für Arbeit (BA) haben wir einen historischen Höchstwert der Beschäftigung erreicht. Wie kommt es dann gegenwärtig zu den Turbulenzen am Arbeitsmarkt? Dazu haben wir mit Christian König, operativer Geschäftsführer der BA Ahlen-Münster, ein Gespräch geführt.

„187.222 Frauen und Männer sind sozialversicherungspflichtig“, also 2672 mehr Menschen im Vergleich zum Vorjahr. Und: „Die Bevölkerung in Münster wird gegen den überregionalen Trend weiterwachsen“, prognostiziert eine BA-Studie vom März 2024 die Entwicklung bis 2050.

Warum wird von einer unhaltbaren Situation gesprochen, besonders in Branchen wie der Pflege, der IT, dem Handwerk und dem Bau und wieso grassiert der Mangel auch im öffentlichen Dienst? Für den Fachkräftemangel findet Christian König nur ein Wort: „Dramatisch“.

Fachkräftemangel in Bau und Handwerk – Foto: Agneta Becker

Bye-bye, Babyboomer

Wie konnte es so weit kommen? Corona habe laut König zur Verschlimmerung einer bereits bestehenden Schieflage geführt. Aber wie war es vor der Pandemie? War der Fachkräftemangel vorauszusehen? Als Vermittler von Ausbildungs- und Arbeitsstellen in seiner Behörde weiß König, dass es längst Warnungen vor dem wichtigsten Auslöser der aktuellen Krise gegeben hat: Dass die Babyboomer in Rente gehen und eine schwer zu füllende Lücke am Arbeitsmarkt hinterlassen werden. „Viele qualifizierte Mitarbeiter stehen kurz davor, in Rente zu gehen“, dieser Fakt war also seit mindestens zehn Jahren klar. Nur… wer soll dann diese Arbeitsplätze übernehmen?

Um gegenzusteuern , kümmern sich König und seine BA-Mitarbeiter*innen um Projekte zur sogenannten „Berufsorientierung“ von Jugendlichen, aber auch zur „beruflichen Neuorientierung“, insbesondere von Arbeitslosen. König selbst ist als Berufsberater von Jugendlichen, Studienanfänger*innen und Hochschulabsolvent*innen in Münster unterwegs. Messen und Veranstaltungen gehören zu seinem Aufgabenbereich.

„Incentives“ machen den Unterschied

Eine aktuelle Debatte auf dem Arbeitsmarkt ist die Integration der jungen Arbeitskräfte. Dabei stellt sich die Frage: Müssen sich die Jungen in die traditionellen Geschäftsprozesse einfügen oder sollen die Führungskräfte die Arbeitsplätze an die Bedürfnisse des Nachwuchses anpassen?

König betont, dass die gesetzlichen Mindeststandards bei Arbeitsbedingungen und Tarifen ausreichen müssen, um Mitarbeiter zu rekrutieren und zu binden. Zahlreiche Arbeitgeber bieten zudem darüber hinaus attraktive Geld- und Sachleistungen, sogenannte Incentives. „Junge Menschen können damit Interesse an einer Karriere in ihrem ausgewählten Unternehmen entwickeln, wenn der Arbeitgeber beispielsweise die Mitgliedsbeiträge für das Fitnessstudio ihrer Mitarbeiter komplett übernimmt.“

Also ist die jüngere Generation eher leistungsschwach und freizeitorientiert? König hält von solchen Pauschalurteilen nichts: „Viele junge Menschen sind einfach schlecht berufsorientiert, daher wechseln sie schnell in andere Branchen, wenn sie sich anders orientieren oder brechen einfach ihre Ausbildungen aus anderen Gründen ab.“

Deshalb arbeiten die Arbeitsagenturen seit geraumer Zeit verstärkt an den Schulen. Nach BA-Zahlen gibt es derzeit in Münster mehr als 400 Ausbildungsmöglichkeiten für Bewerber*innen, die noch Schüler*innen sind oder dort gefördert werden könnten.

„Ab Klasse 8 haben alle Schüler einen Berufsberater, der in Zusammenarbeit mit uns alle Aktivitäten koordiniert. Wir organisieren monatliche Infostände, um alle notwendigen Informationen für Lehrer, Eltern und Schüler bereitzustellen und die Aufmerksamkeit der Jugendlichen zu wecken.“

Und welche Rolle spielen die Eltern bei der Berufswahl? Dazu sagt König, es gebe Job-Veranstaltungen und -Messen speziell für Eltern, die ihrerseits Orientierung für die Berufswahl der Kinder benötigten.

Headhunting geht über Grenzen hinaus

Zur Frage, ob Arbeitslose den Arbeitskräftemangel beheben können, antwortet König: „Viele verfügen nicht über ausreichende Qualifikationen, um die offenen Stellen zu besetzen, oder passen einfach intellektuell nicht.“ Deshalb bemühen sich Jobcenter und Arbeitsagenturen, die Qualifikation der Erwerbslosen zu stärken. Aber sie unterstützen auch bei der Anerkennung akademischer Grade und bei der Verbesserung von Sprachkenntnissen. „Viele Arbeitnehmer bilden sich selbständig beruflich und nebenberuflich weiter.“ So erwerben auch viele Azubis „on the job“, also während der Berufstätigkeit das nötige Know-how.

Wenn allerdings nur wenige Bewerber*innen auf viele freie Stellen treffen, ist Kreativität gefragt. Hier könnte die Rettung aus dem Ausland kommen: So sind die Deutschkurse außerhalb der Bundesrepublik sehr gefragt und Institutionen wie das Goethe-Institut, so König, machen sich dieses starke Interesse zunutze. Sie bereiten die Teilnehmenden in verschiedenen Ländern mit dem Spracherwerb auf eine mögliche Arbeit in Deutschland vor. Doch dies ist erst der Anfang: Für ausländische Bewerber*innen und deutsche Arbeitgeber*innen beginnt nun ein meist komplizierter Prozess.

„Es ist eine harte Arbeit und erfordert viel Koordination mit verschiedenen Organisationen und Ämtern in Bonn und Nürnberg“, berichtet König über die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte, die er immerhin als „weniger bürokratisch als zuvor“ beschreibt. Er erwähnt dabei nicht, dass die Anträge mit komplizierten Prozeduren in Konsulaten und Botschaften ihren Anfang nehmen.
„Außerdem müssen wir darauf achten, dass wir die Nachfrage nach Arbeitskräften in kritischen Sektoren in ihren eigenen Ländern nicht beeinträchtigen. Denn es nützt nichts, ausländisches Personal zu holen, um offene Stellen, hier beispielweise im Pflegebereich, zu besetzen, wenn die Situation dort ebenfalls kritisch ist.“

Zahlreiche Stolpersteine

Die deutsche Sprache und die berüchtigten Schwierigkeiten bei ihrem Erlernen sind nur die Spitze des „Barriere-Eisbergs“ für ausländische Arbeitskräfte. Das letzte „Deutsch-Wort“ haben dann die sogenannten Kompetenzzentren der Industrie- und Handelskammern und die Arbeitsagenturen, die jeden Antrag überprüfen müssen. So kann die IHK-Akte eines ausländischen Bewerbers oder einer Bewerberin mehr als 100 Seiten stark sein. Bereits das auf diesem Gebiet federführende „Kompetenzzentrum der Industrie- und Handelskammern zur Festlegung der Gleichwertigkeit ausländischer Berufsabschlüsse“ trägt einen komplizierten Namen – schwer zu merken und noch schwerer auszusprechen. Dazu kommen Anhänge, Zertifikate, Abschlusskopien, noch mehr Unterlagen und Daten, die zur Authentifizierung einzureichen sind. Als Job-Motivation nur den leerfegten deutschen Arbeitsmarkt zu nennen, ist längst nicht ausreichend. Viele Bewerber*innen stehen vor einem monatelangen Prozess, der doch nur ihre Kenntnisse und Stärken bestätigen soll, um sie später als Arbeitskräfte zu beschäftigen.

Die Integration ausländischer Arbeitnehmer*innen und der Aufbau einer funktionierenden „Willkommenskultur“ ist für Deutschland eine echte Herausforderung. Dennoch versichert König, dass „der Markt und die Leute immer für ausländische Fachkräfte offen sind“, nicht unbedingt wegen der aktuellen Nachfrage, sondern weil „es unsere Kultur ist“.

Laut des BA-Berichtes „Arbeitsmarkt kompakt | Februar 2024“, ist die Zahl der erwerbstätigen Deutschen im vergangenen Jahr beispielsweise in Pflegeberufen um fast 17.000 gesunken. „Dieser kräftige Rückgang gegenüber Juni 2022 wurde aufgefangen durch 4500 zusätzliche Fachkräfte aus dem Westbalkan und ebenfalls zusätzlichen 4500 aus den Asylherkunftsländern und der Ukraine. Mit über 15.000 kam jedoch der größte Beitrag aus den übrigen Drittstaaten.“

Ebenso bekannt ist, dass diese Arbeitsmigrant*innen mit deutlich mehr sozialen Schwierigkeiten konfrontiert sind, etwa wenn sie eine Wohnung oder einen Kitaplatz für ihre Kinder suchen. War die Wertschätzung der sogenannten systemrelevanten Arbeit nur während der Corona-Pandemie gültig, oder soll sie generell als Bestandteil der Willkommenskultur gelten? Wie dem auch sei – die Unterstützung für Mitarbeiter*innen in der Pflege scheint wieder deutlich auf dem Rückzug zu sein.

Auch in Kindergärten und Kitas fehlt es an qualifiziertem Personal – Foto: Agneta Becker

„Misere“ in den Kitas

Die aktuelle Situation in vielen Kitas, in denen ebenfalls qualifiziertes Personal fehlt, wird von König schlichtweg als „Misere“ bezeichnet. Als bekennender Förderer der „Chancengleichheit von Frauen und Männern in Münster“ diagnostiziert er unzählige Schwierigkeiten in Kindergärten und Kitas – bis hin zur Schließung ganzer Einrichtungen wegen Personalmangels.

In diesem Zusammenhang sollten jene Mütter erwähnt werden, die nicht in den Arbeitsmarkt re-integriert werden können, weil sie keine Kinderbetreuung auftreiben können. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts vom September 2023 „befinden sich gut ein Drittel der 25- bis 59-jährigen Frauen in stiller Reserve und geben Betreuungspflichten als Hauptgrund für ihre Inaktivität am Arbeitsmarkt an“.

Aufgrund dieser Problemlage wurde 2021 das Pilotrekrutierungs-Projekt für Erziehungskräfte in NRW gestartet. Es zielt darauf ab, qualifizierte Erzieherinnen aus Spanien in deutschen Kindergärten zu beschäftigen – mit der Möglichkeit, nach Abschlüssen und Sprachkenntnistests als „Staatlich anerkannte Erzieher*innen“ anerkannt zu werden.

Vier-Tage-Woche, Job-Turbo – was hilft?

Länder wie Großbritannien und Dänemark entwickelten eine vielversprechende Idee: Um den Personalmangel zu bekämpfen, wurde die Arbeitswoche in vielen Branchen auf vier Tage reduziert. König zeigt sich skeptisch, ob die deutsche Lokal- und Bundespolitik diesen Lösungsvorschlag akzeptieren würde: „Es wird einige Unternehmen geben, denen es gefallen könnte, die Arbeitstage und Arbeitsstunden zu reduzieren, aber nicht in allen Sektoren wird es möglich sein, diese Maßnahme zu ergreifen, wenn von Montag bis Freitag oder sogar bis Samstag noch Personal benötigt wird.“

Apropos Politik: Der „Job-Turbo zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten“ ist eines der Vorzeigeprojekte von Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales. „Es ist ein Projekt, das betrifft spezifisch das Jobcenter“, sagt König und erwähnt die Zahlung von Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit oder Insolvenz in seinem Verantwortungsbereich bei der BA in Münster.

Eine Linderung des „dramatischen“ Fachkräftemangels in Deutschland könnte durch Arbeitslose, Migrant*innen und Nachwuchs erfolgen. Das hat die BA erkannt und investiert kräftig in die Förderung dieser Personengruppen, ohne das Thema Lohn anzusprechen. Allerdings sind noch viele weitere entschlossene Maßnahmen nötig, um die aktuelle Krise zu entschärfen. Das Problembewusstsein in der breiten deutschen Öffentlichkeit scheint noch gering: Viele Deutsche sehen die ausländischen Arbeitskräfte eher als Problem und nicht als Lösung. Die Arbeitslosen werden zwar als „Reserve“ für unbesetzte Stellen wahrgenommen, aber nur selten als „Retter in der Not“ geschätzt – unter anderem, weil ihre berufliche Qualifizierung und für viele der Spracherwerb erhebliche Kosten verursachen.

Während Expert*innen und Parteifunktionär*innen in verschiedenen Talkshows über dieses Thema streiten, stapeln sich Hunderte Bewerbungen auf den Schreibtischen der Behörden; die Menschen müssen auf ihre Arbeitserlaubnis warten. Gleichzeitig feiern immer mehr Arbeitnehmer*innen den Eintritt in ihren beruflichen Ruhestand, allerdings bleiben viele ihrer Arbeitsplätze unbesetzt. Die Leidtragenden sind bekannt: Den Pflegebedürftigen fehlt der Pfleger und den Kitakindern die Erzieherin. Aber auch im öffentlichen Dienst und in der IT wird die Lage brenzlig. Selbst in Münster mussten Stadtbusse schon im Depot bleiben und Fahrpläne ausgedünnt werden, weil nicht (mehr) genügend Busfahrer*innen vorhanden waren. Ähnlich sieht die Situation bei den Bahnunternehmen aus, die händeringend Lokführer*innen suchen.

Bleibt die Frage: Sind all diese Berufe und Tätigkeiten tatsächlich auf einmal für die nachfolgende Generation so unattraktiv geworden oder sind es doch die Rahmenbedingungen, die die entscheidende Rolle spielen? Könnten bessere Anfahrtmöglichkeiten, ein gutes Betriebsklima für Jüngere, nachhaltige Arbeitsbedingungen und ein „fairer Lohn“ helfen, die freien Stellen schneller zu besetzen?