Zum Leben zu wenig

Armes reiches Land

Zur Vermögensverteilung in Deutschland

Zu keiner Zeit seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland waren die Vermögensverhältnisse im Land so unausgewogen wie heute. Die viel zitierte „Schere zwischen Arm und Reich“ ist mittlerweile fester Bestandteil der deutschen Umgangssprache. Politische Instrumente, um diese so asoziale wie gefährliche Entwicklung zumindest zu bremsen, stehen seit jeher zur Verfügung. Man müsste sie nur anwenden.

Von Robert Martschinke

Die Verteilung des gesamtgesellschaftlichen Vermögens in der BRD wird erst seit knapp 30 Jahren mehr oder minder systematisch untersucht und erfasst. In den ersten Jahrzehnten der Republik zielte die Politik – Stichwort Soziale Marktwirtschaft – darauf ab, die Privatvermögen der Bürger möglichst breit gestreut auf etwa gleichem Niveau zu halten. Damit entstand die sogenannte Mittelschicht. Es gab wie überall ein paar stinkreiche Bürger wie bettelarme Arbeiter, aber die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lag ziemlich mittig zwischen diesen Extremen.

Es war einmal…

Bis Ende der 1980er-Jahre wurde diese Politik, die staatliche Regulierung der heimischen Wirtschaft zugunsten eines, wenn auch bescheidenen, Wohlstands, für alle beibehalten, UdSSR und DDR sei tausend Dank. Hätte eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse in breiten Kreisen der bundesdeutschen Bevölkerung während des „Kalten Krieges“ doch Zweifel am Heil im Kapitalismus und womöglich Sympathien für Sozialismus und Kommunismus beflügelt? Diese Entwicklung galt es im Westen des geteilten Landes unter allen Umständen zu vermeiden. So hatte wenigstens der Kalte Krieg in diesem Fall sein Gutes. Zumindest in der alten Bundesrepublik.

Die Entstehung des Prekariats

Dann schlug die Geschichte zu. Die Sowjetunion zerlegte sich selbst, die BRD kaufte die DDR vom Grabbeltisch, der Kommunismus war plötzlich ein (schein-) toter Witz der Geschichte und der Kapitalismus tatsächlich für einen geschichtlichen Moment alternativlos. Er nutzte die Gunst der Stunde und setzte brutal und unaufhaltsam seine Globalisierung in Gang. Die kam zurück nach Deutschland in Form von Gerhard Schröders Agenda 2010 – so ziemlich in allen Punkten das genaue Gegenteil von Ludwig Erhards Sozialer Marktwirtschaft. Schröders Großtat machte in wenigen Jahren die BRD zum Niedriglohnparadies für Arbeitgeber und Investoren, während die Einkommen weiter Kreise der einst als staatstragend angesehenen Mittelschicht ins Bodenlose sanken. Die Mittelschicht begann zu schrumpfen, wer rausfiel, füllte ein neues Millionenheer von Erwerbslosen und Niedriglöhner*innen – das „Prekariat“.

Die Agenda 2010: Abbau von Arbeitsrechten zugunsten der Unternehmer*innen, Ausbau des Billiglohnsektors und der Leiharbeit, was einen „Arbeitsmarkt“ generierte, auf dem menschliche Arbeitskraft und Kreativität sprichwörtlich verramscht wurden und werden. Arbeiter*innen, die sich solcher Erniedrigung und Ausbeutung nicht beugen wollen, werden per „Sozialgesetzgebung“ mit Sanktionen durch die Jobcenter so lange bedroht und bestraft, bis sie gehorchen und jeden noch so miesen Job annehmen. Oder wohnungslos auf der Straße landen und um Essen betteln. Während die Zahl der Millionäre Jahr für Jahr ebenso zunimmt wie deren Vermögen.

Strohfeuer

Als Martin Schulz Anfang des Jahres 2017 als SPD-Kanzlerkandidat antrat, war kurzzeitig wieder appellativ von der sich immer weiter spreizenden „Schere zwischen Arm und Reich“ die Rede. Ausgerechnet Schröder- und Agenda-Fan Schulz versprach vollmundig Abhilfe. Als schließlich im April der Armuts- und Reichtumsbericht der aktuellen Regierung unter der Überschrift „Lebenslagen in Deutschland“ herausgegeben wurde, sorgten vor allem eine Handvoll gestrichener Passagen für Schlagzeilen. Die skandalösen Zahlen wurden verschämt totgeschwiegen oder blumig aufgehübscht. Mittlerweile ist das Thema sinnigerweise wieder von der Tagesordnung verschwunden. Die innere Sicherheit geht nun vor.

In der BRD gibt es laut Forbes-Liste mittlerweile mehr als eine Million Millionäre. Rund jeder achtzigste Deutsche besitzt also gegenwärtig mindestens so viel, dass eine Hartz-IV-Empfängerin mehr als 2400 Jahre davon leben könnte bzw. müsste, legt man den gegenwärtig geltenden Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen zugrunde.

Obszöne Verhältnisse

Die reichsten zehn Prozent der deutschen Bevölkerung verfügen über mehr als zwei Drittel des gesamten Privatvermögens. Das reichste Prozent immer noch über mehr als ein Drittel. Das reichste Promille, also eine(r) unter Tausend, noch über beinahe ein Viertel. Die oberen fünf Promille verfügen über genau so viel Vermögen wie die unteren 90 Prozent. Und umgekehrt.

Nur abstrakte Zahlen? Mehr als jedes fünfte Kind wächst in staatlich anerkannter Armut auf. (Was das konkret bedeutet, hat Lisa Liesner in einem ihrer letzten Artikel anschaulich dokumentiert.) Mehr als vier Millionen Erwachsene sind privat überschuldet. Also mehr als nur pleite. Zehntausende sind nicht krankenversichert, weil sie es sich schlicht nicht leisten können und sonst keiner für sie zahlt. „Wer arm ist, hat zunehmend weniger Aussichten, aus dieser sozialen Lage wieder aufzusteigen“, so Rolf Rosenbrock vom Paritätischen Gesamtverband anlässlich des Jahresgutachtens 2017 zur sozialen Lage in Deutschland gegenüber junge welt. „Die Zeiten des Vorwärts in der sozialen Entwicklung sind Geschichte. Es droht tatsächlich die Abstiegsgesellschaft zur Realität zu werden.“ Seit 1997 hat sich der Anteil derjenigen, die in verfestigter Armut leben, auf annähernd zehn Prozent der Bevölkerung verdoppelt.

Defensivwaffe Vermögensteuer

Dabei stehen durchaus Mittel zur Einebnung der krassen materiellen Ungleichheit bereit. Die Vermögensteuer ist – anders als Merkel (CDU), Schulz (SPD) und Lindner (FDP) es gern hätten – keine krude stalinistische Wahnidee der Linkspartei. Die Steuer gab‘s schon mal. Dass sie das Land ruiniert hätte, ist nicht bekannt. Die Vermögensteuer wurde in Westdeutschland bis 1997 erhoben. (Die angeschlossene Ex-DDR blieb gleich ganz befreit.) Das Prinzip: Wer über mehr als einen bestimmten Betrag – sagen wir eine Million Euro – verfügt, zahlt von dem, was er oder sie darüber hinaus besitzt, einen prozentualen Anteil als Steuer. Die Vermögensteuer ist wie die Erbschaftsteuer im Grundgesetz Artikel 106, Abs. 2 ausdrücklich vorgesehen, in der Einsicht, dass die Vermögensungleichheit in der Gesellschaft „ein gewisses Maß nicht überschreiten darf, sonst geht sie über in Unfreiheit“, wie der damalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde 1997 feststellte.

Die Vermögensteuer wurde 1997 nicht aufgehoben oder abgeschafft, sondern lediglich ausgesetzt. Sie könnte jederzeit wieder erhoben werden. Die einzige politische Partei, die sich auch im nächsten Bundestag hierfür einsetzen will, ist indes die Linke.

Defensivwaffe Erbschaftsteuer

In Deutschland wurden allein im vergangenen Jahr fast sechs Billionen Euro vererbt, das Anderthalbfache des gesamten Bruttosozialprodukts. Es wird also permanent wesentlich mehr vererbt als erwirtschaftet. Mehr als die Hälfte unserer Milliardäre in der BRD sind Milliardäre durch Erbschaft. Das System der Besteuerung dieser Erbschaften ist allerdings ein Witz. Millionen- und Milliardenvermögen werden vorwiegend in Form von Immobilien und Unternehmen vererbt. Diese wiederum werden steuerlich weitestgehend verschont.

„Eigentum verpflichtet“, heißt es in Artikel 14, Absatz 2 Grundgesetz, „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Die Frage sollte erlaubt sein, ob die herrschenden, allzu oft obszönen Besitzverhältnisse und die Weigerung der scheidenden wie wohl auch der kommenden Regierung, dagegen etwas zu tun, nicht einen Verstoß gegen das Grundgesetz, kurz: einen Verfassungsbruch darstellen.

Ludwig Erhard reloaded

Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Links-Partei im Bundestag, musste sich schon bei ihrer vorletzten Buchveröffentlichung („Freiheit statt Kapitalismus“) vor einigen Jahren vom Spiegel anhören, sie habe ja in weiten Teilen bei Ludwig Erhard abgeschrieben. Und auch das Programm ihrer Partei zur Bundestagswahl hat nicht viel von Sozialismus, der den Namen verdient, aber eine Menge von Ludwig Erhards Sozialer Marktwirtschaft – bedingungsloses Grundeinkommen für alle inklusive.

Dorthin zurück wäre gegenwärtig ein gewaltiger Schritt vorwärts.