Anfang Juli veranstaltete der Paritätische Gesamtverband in Zusammenarbeit mit 23 weiteren Institutionen den nationalen Armutskongress in Berlin. Das Resümee der Veranstaltung: Armut hat viele Gesichter, die die Betroffenen meistens verstecken.
von Lisa Liesner
Kritik an der Armutsentwicklung sowie der Ausbreitung prekärer Lebenslagen konnte man bereits in dem im Februar veröffentlichten Armutsbericht lesen. Angesichts der Brisanz richtete der Paritätische Gesamtverband mit 23 weiteren Verbänden und Fachorganisationen – darunter der DGB, die Nationale Armutskonferenz, Pro Asyl und der Kinderschutzbund – am 7. und 8. Juli den ersten gemeinsamen Armutskongress aus.
Der Untertitel dieser ergebnisoffenen Veranstaltung: Zeit zu(m) Handeln. Ihre Ziele: dem Thema Armut mehr Gehör verschaffen, dafür mobilisieren und sich solidarisieren. Etwa 500 TeilnehmerInnen informierten sich in verschiedenen Vorträgen, diskutierten in Workshops und vernetzten sich in den Pausen. Neben zahlreichen VertreterInnen von Institutionen nahmen auch Menschen aus Praxis und Wissenschaft sowie Betroffene teil.
„Neoliberales Gehirndoping“
Die ExpertInnen übten in ihren Vorträgen vielfach Kritik an der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Das neoliberale Paradigma weise den Betroffenen selbst die Schuld an ihrer Situation zu. Dies sei fatal, da Armut als Scheitern empfunden werde. Die Folgen: Die Betroffenen versteckten sich, was eine weitreichende Mobilisierung erschwere, wie der Sozialpsychologe Prof. Dr. Heiner Keupp in seinem Vortrag beschrieb: „Armut ist nicht nur eine ökonomische Kategorie, sondern beschreibt einen strukturellen Mangel an zivilgesellschaftlicher Teilhabe. Verbreitete diffuse Ängste haben die Mitte der Gesellschaft erreicht und fördern die Entsolidarisierung und die Entwertung von Menschen, denen es ökonomisch schlechter geht. Die mentalen Sperren neoliberalen Gehirndopings müssen aufgebrochen werden: Armut ist ein zentraler Faktor, der für die Verteilung von Lebenschancen verantwortlich ist.“
Dabei täten zum Beispiel Hartz-IV-EmpfängerInnen und andere Menschen mit geringem Einkommen gut daran, sich zu solidarisieren, wusste Volkswirtschaftler Prof. Dr. Stefan Sell. Denn sonst könnten bei einigen von ihnen rechtspopulistische Ideen auf fruchtbaren Boden fallen, wie die verschiedenen RednerInnen immer wieder bemerkten. Annelie Buntenbach (DGB) sprach in ihrem Vortrag von einer „Umverteilung des Mangels“ und warnte vor einer Verlagerung des Verteilungskampfs nach unten.
Vielfalt der Gruppen und Themen
Welche Gruppen „unten“ stehen, das wurde in den verschiedenen Fachforen und Workshops am ersten Kongresstag deutlich. Dort diskutierten VertreterInnen von Organisationen, Menschen aus der Praxis und zum Teil Betroffene. Die KongressteilnehmerInnen erhielten so auch die Chance, einmal über den Tellerrand zu schauen.
So vielfältig wie die Gruppen waren auch ihre Themen: Eine Änderung des Teilhabegesetzes forderten die Menschen mit Behinderung. Ein-Eltern-Familien sahen politischen Handlungsbedarf beim Unterhaltsvorschuss sowie bei der undurchsichtigen Bürokratie. Gegen Stigmatisierung und für mehr gesellschaftliche Akzeptanz kämpfen Menschen mit psychischen Erkrankungen. Menschen mit Migrationshintergrund richten den Fokus auf die Aufnahmegesellschaft, die den Bildungsweg vielfach erschwert. Weitere Workshops nahmen Geflüchtete, Arbeits- und Wohnungslosigkeit sowie Kinder- und Altersarmut in den Fokus.
Forderung nach Umverteilung per Steuerpolitik und bedarfsgerechter Grundsicherung
Prof. Rolf Rosenbrock sprach von den ungleichen Chancen bei Gesundheit und Lebenserwartung. Einen anderen Blick auf das Thema bot Friedhelm Hengsbach, Hochschullehrer für christliche Gesellschaftsethik. Er sieht in dem „Recht auf Rechtfertigung“ den Kern der Gerechtigkeitsfrage.
Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaft und renommierter Armutsforscher, machte auf den politischen Einfluss extrem reicher Familienunternehmen aufmerksam. Er meint: „Wer die Armut mit Erfolg bekämpfen will, muss den Reichtum antasten. Nötig wären die Wiedererhebung der Vermögenssteuer, die Erhöhung des Spitzensteuersatzes in der Einkommenssteuer, die Angleichung der Kapitalertragssteuer sowie eine progressivere Besteuerung großer Erbschaften und Schenkungen (einschließlich betrieblicher Vermögen, die nach dem Gleichheitssatz behandelt werden sollten und nicht privilegiert werden dürfen).“
Auch er sieht im Neoliberalismus den Grund für die politische Spaltung der Gesellschaft, in der sich viele nicht mehr vertreten fühlen. Armut erfülle in diesem Fall eine Disziplinierungsfunktion, die den Niedriglohnsektor am Laufen halte. Seine Forderung und die vieler anderer RednerInnen: Umverteilung in Form einer solidarischen Steuer- und Finanzpolitik und infolgedessen eine armutsfeste, bedarfsgerechte, menschenwürdige und repressionsfreie Grundsicherung.
Wie kann eine Mobilisierung aktiv gestaltet werden?
Wie die Chancen dazu aussehen und wie eine Mobilisierung aktiv gestaltet werden kann – darum ging es in den Workshops am zweiten Kongresstag. Dabei galt es, Ideen und Strategien gegen den innerlichen Rückzug der Betroffenen und für eine Solidarisierung zu entwickeln. Während es in einer Gruppe um die Organisation von Erwerbslosengruppen – vorrangig bei der Gewerkschaft ver.di – ging, beschäftigten sich andere Workshops mit der Frage, auf welche Weise Aufmerksamkeit geweckt und eventuell sogar Schritte hin zu einer Bürgerrechtsbewegung gegen Armut eingeleitet werden können.
Der Austausch über erfolgreiche kreative Aktionen an öffentlichen Plätzen verspricht Erfolg. Helge Bauer vom Protestlabor: „Die wichtige Erkenntnis, dass die Starken den Schwachen helfen, auch weil jede(r) Starke schnell und unerwartet zu einer/einem Schwachen werden kann, wird verdrängt und immer weniger gelebt. Wir brauchen dringend auf unseren Straßen einen lautstarken Weckruf für diese Gesellschaft, die sich träumend in einer Welt aus Seifenblasen verliert. Erst wenn Solidarität wieder der gemeinsame Konsens ist, haben wir das Fundament, eine umfassende Armutsbekämpfung auf den Weg zu bringen.“ Wichtig sei dabei, mehr Geschichten in die Medien zu bringen und wegzukommen von gesichtslosen Statistiken.
Das Resümee nach zwei intensiven Kongresstagen: Armut hat viele Gesichter, die aber kaum jemand zeigen will. Die weit verbreitete relative Armut wird selten als solche anerkannt. Trotzdem haften den Betroffenen Stigmata an, denen oft selbst die Schuld an ihrer Situation gegeben wird.
Relative und absolute Armut setzen sich in der Gesellschaft fest
Doch nicht nur die relative Armut hat in Deutschland mittlerweile System, sondern auch die absolute: So wird bei Vielen das Existenzminimum unterschritten, wenn sie Auflagen der Behörden nicht erfüllen. Wohnungslose fallen oft aus sämtlichen Sicherungen heraus, und Krankheiten treffen sie meist sehr viel härter als andere. Und dann wird von ihnen allen sogar noch Dankbarkeit und Demut erwartet.
Dabei sind „soziale Rechte in internationalen Verträgen festgehaltene Menschenrechte, keine Gnade der jeweiligen deutschen Regierung“, so Michael David, stellvertretender Sprecher der nationalen Armutskonferenz. Bildung, Gesundheit und Wohnung – dazu haben längst nicht alle Menschen Zugang. Ihnen muss eine Teilhabe an der Gesellschaft möglich sein, in der sie leben.
Hier könnte der Veranstalter selbst mit gutem Beispiel vorangehen, indem er neben der kostenlosen Teilnahme für Betroffene und baulichen Barrierefreiheit zum Beispiel auch Kinderbetreuung und GebärdendolmetscherInnen anbietet.
Den kompletten Armutsbericht 2016 gibt es hier zum Download.
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