„Ossi“-Identität ist generationenübergreifend stabil
Steffen Mau auf der Suche nach den Ursachen der ungleich vereinten Deutschen
Eine Buchbesprechung von Werner Szybalski
Länger als eine Generation ist die einzige erfolgreiche Revolution in Deutschland schon her. Aus dem Aufbegehren mutiger, kritischer und überwiegend antiautoritär denkender Menschen wurde die Deutsche Demokratische Republik (DDR) schließlich von Menschen mit Hoffnung auf ein westlich-konsumorientiertes Leben abgeschafft.
Der Soziologe Steffen Mau von der Humboldt-Universität Berlin, ein gebürtiger Rostocker des Jahrgangs 1968, hat jüngst untersucht, warum es fast 35 Jahre nach der Revolte noch immer ein großer Unterschied zwischen Menschen im Osten, also den gelegentlich noch immer „neue Bundesländer“ genannten Regionen, und den Bewohner*innen der alten Bundesrepublik gibt.
Drei weitere lesenswerte Bücher – Was hält Gesellschaften eigentlich zusammen? – ergänzen diese Bücherschau.
Von blühenden Landschaften im Gebiet der ehemaligen DDR fantasierte damals der Bundeskanzler der Wiedervereinigung: Helmut Kohl von der bei der ersten Wahl im wiedervereinigten Deutschland erfolgreichen CDU. Aus seinen Versprechungen wurde bekanntlich nichts und heute machen die mit viel Westgeld (unter anderem der Solidaritätszuschlag) und EU-Förderung aufgemöbelten ostdeutschen Bundesländer eher Schlagzeilen mit überdurchschnittlichen Wahlergebnissen für die rechtsradikale AfD und breitem Bekenntnis zum neugegründeten Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) und deren Nähe zu Russland.
Bleibende Unterschiede
Der Wissenschaftler Steffen Mau analysierte die Unterschiede zwischen den wiedervereinten Deutschen in Ost und West. In seinem Buch „Ungleich vereint – warum der Osten anders bleibt“ nutzt er zur Erklärung, warum dies auch noch eine Weile so bleiben wird, den Begriff der „Ossifikation“. Dieser medizinische Begriff, der „Knochenbildung“ oder „Verknöcherung“ beschreibt, war schon vor über 20 Jahren von der damaligen PDS-Bundestagsabgeordneten Angela Marquardt in die Diskussion gebracht worden. Tatsächlich ergäbe er aber erst heute erkennbaren Sinn, weil auch die Nachwendegenerationen sich über ihr „Ostdeusch-Sein“ definierten.
Eine seiner wesentlichen Erkenntnisse ist, dass es in vielen für die Einstellung und das Empfinden der Menschen entscheidenden Kategorien – von Wirtschaft über Politik bis hin zu Mentalität und Identität – „bleibende Unterschiede“ zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands gibt. Aus dieser Trennung sei auch der „Ossi“ begrifflich entstanden, dem tatsächlich in den alten Bundesländern keine „Wessi“-Identität gegenüberstünde.
Ostdeutschland sei im Gegensatz zum Westen ein „Land der kleinen Leute“ und leide unter anderem auch an „dramatischer Elitenschwäche“. Aus diesen realen Unterschieden sei ein neues „Ostbewusstsein“ entstanden, wie auch die Menschen in den dortigen Stadien und Arenen durch „Ostdeutschland, Ostdeutschland“-Rufe immer wieder lautstark verdeutlichen. Einerseits würde auf die Familiengeschichte der Ostdeutschen zurückgeblickt und andererseits würde aus der erlebten innerdeutschen Benachteiligung ein „Oststolz“ entwickelt, der sicherlich auch von nicht unerheblichen Trotz getragen sei. Mau will auch nicht ausschließen, dass es sogar Parallelen zum Phänomen der „Rekulturalisierung“ gibt, wie sie bei Angehörigen der zweiten und dritten Generation von Migrant*innen vorkommen. Die Nachkommen sind sensibler für Diskriminierungen als ihre Eltern und Großeltern und treten gleichzeitig erheblich selbstbewusster auf. Das Bekenntnis, „ostdeutsch“ zu sein, trägt zugleich die Forderung nach Gleichstellung und Anerkennung in sich. So ist für Steffen Mau klar, dass sich der Osten dem Westen, zumindest in nächster Zeit, nicht annähern wird, denn, so der Autor, es habe sich „jenseits ungleicher ökonomischer Bedingungen“ ein „eigenständiger Kultur- und Deutungsraum Ostdeutschland“ herausgebildet.
Mangelnde Bindung an Parteien und Institutionen der Bürgerschaft
Steffen Mau verweist auf die geringe Bindung der Menschen in Ostdeutschland an Parteien und Institutionen der Zivilgesellschaft. So seien von 100 Wähler*innen weniger als eine*r Mitglied einer Partei. Zudem ist die ostdeutsche Parteienlandschaft, wie auch viele Landkreise durch den großen Männerüberschuss sehr maskulin geprägt. 80 Prozent der Parteimitglieder seien Männer.
Warum die CDU in Ostdeutschland besser dasteht als die Ampelparteien, ist für Steffen Mau ganz klar: Die CDU hat aus der DDR die Blockflötenpartei übernommen. Dies war der SPD oder den Grünen nicht möglich. Da sie erste Wahlsiegerin war, baute sie auch örtliche Strukturen aus oder auf, was ihr zu der heutigen Größe verhalf. Die FDP erreichte mangels sozialer Oberschicht und breiter beruflicher Selbständigkeit in der Arbeitnehmergesellschaft im Osten, dem „Land der kleinen Leute“, keine Bedeutung.
Anders sieht das bei der AfD aus, die sich als „Kümmerer-Partei“ vor Ort engagiert und den Unwillen der Menschen aufnimmt, die sich von denen da oben, was zumeist mit Merkel oder Ampel übersetzt wurde und wird, nicht repräsentiert fühlen. Die faschistoide Ausrichtung vieler aktiver AfDler berührt die Menschen wenig, offensichtlich auch wegen ihrer Ferne zur parlamentarischen Politik und ihren Mandatsträger*innen. Da sollen es doch für rund ein Drittel der ostdeutschen Wahlberechtigten auch „die“, gemeint ist die AfD und inzwischen auch das Bündnis Sarah Wagenknecht, einmal an der Regierung versuchen dürfen.
„Labor der Partizipation“ – basisdemokratische Elemente als Lösung
Steffen Mau analysiert bezüglich der Parteienbindung und den Institutionen der Zivilgesellschaft bei vielen Menschen in Ostdeutschland ein großes Defizit. Wie oben in der „Verfestigungsthese“ beschrieben, wirkt in Ostdeutschland die „Geschichte in Strukturen und Identitäten nach“ (familiären Wohlstand, Geschlechterverhältnis, unzureichende Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Grundlagen der SED-Diktatur). Mau hält die Ostdeutschen nicht für antidemokratisch oder politikverdrossen. Allerdings sei diese politische Kultur durch eine vor, um und nach 1989 spezielle „Parteienpolitikverdrossenheit“ gekennzeichnet, der, so Mau, mit konkreten, experimentierfreudigen Antworten aus dem „Labor der Partizipation“ begegnet werden könne oder auch müsse.
Als Lösungsansatz schlägt er eine leichtere Teilhabe der Menschen zum Beispiel durch starke Bürgerräte vor. Dadurch erhofft sich der Berliner Soziologe den Abbau der empfundenen Politikferne, wenn die Menschen oder ihre Nachbarn in Bürgerräten selbst (mit-)entscheiden dürften. Die „Ertüchtigungsmaßnahmen der Demokratie“ will Mau allesamt „von unten“ verwirklicht haben.
Auch verweist Steffen Mau darauf, dass „immer mehr Landräte und Bürgermeister nicht parteigebunden sind und über Wählerinitiativen ihr Amt“ erobern. Dies gemeinsam wirft die Frage auf, warum Mau, in dem sehr lesenswerten Buch, nicht auch Vergleiche zu den Auslösern der Revolution von 1989 und ihren basisdemokratischen und antiautoritären Zielvorstellungen, die sich insbesondere in „runden Tischen“ zeigten, verfolgt. Vielleicht zeigt sich im Osten, insbesondere wenn die Nichtwähler einbezogen werden, eine zunehmende Ablehnung der Stellvertreterpolitik, wie sie in der DDR, aber auch heute – mit echten Wahlen ausgestattet – noch immer besteht. Doch noch gibt es außer lokalen Initiativen, die kaum zusammenarbeiten könnten, keine Bewegung oder Gruppe, die die (basis-) demokratischen, anti-autoritären und auf Selbstbestimmung ausgelegten Menschen abholt. Deshalb dürfte Mau recht behalten, dass die heutige Situation sehr fest sei.
Steffen Mau: Ungleich vereint; Berlin; Suhrkamp; 2024; 178 Seiten; 18 Euro; ISBN 978-3-518-02989-3; ausleihbar in der Hauptstelle und der Zweigstelle Gievenbeck-Auenviertel der Stadtbücherei Münster: Signatur EMP 4 MAU.
Was eint, was spaltet Gesellschaften?
Weitere lesenswerte Bücher zum Thema
In „Demokratie und Revolution“ stellen die Historikerin Hedwig Richter und der Journalist Bernd Ulrich fest, dass unsere Gesellschaft durch den Klimawandel existenziell bedroht ist. Auch hätte die Ampelregierung zu wenig getan, um die Lebensbedingungen für den Fortbestand der liberalen, grünkapitalistischen Gesellschaft zu sichern.
Der Soziologe Steffen Mau und seine Kollegen haben die „Triggerpunkte“ unserer Gesellschaft festgemacht. An vier Konfliktarenen verdeutlichen sie auf Grundlage eigener wissenschaftlicher Untersuchungen, dass unsere Gesellschaft nicht so gespalten ist, wie sie häufig wahrgenommen wird.
Geprägt von brutalem Rassismus ist das Leben in Mississippi (USA). Wie sich die schwarze Bevölkerung erfolgreich zur Wehr setzte und den „Aufbruch in Jackson“ – insbesondere auf der kommunalen Ebene – schaffte, zeigt der lesenswerte Sammelband auf. (ws)
Demokratie und Revolution
Nach der historischen Betrachtung und der Analyse der Gegenwart machen Richter und Ulrich sich Gedanken über den aktuellen Zustand unserer Demokratie. Von der Lösung der sozialen Frage halten beide nicht viel, sondern negieren sogar, dass diese mit der ökologischen Frage zusammenhänge. Da Klimaschutz, der ihnen wichtig ist, um in den industrialisierten Ländern den hohen Lebensstandard der Besserverdienenden und Reichen zu erhalten, ohne jede Beschränkung im Privaten nicht funktionieren würde, schlagen sie eine Revolution von oben vor. Das Volk solle Verzicht üben und sich der (konservativ-grünen) Obrigkeit willig unterwerfen.
Hedwig Richter und Bernd Ulrich: Demo-kratie und Revolution; Köln; Kiepenheuer & Witsch; 2024; 368 Seiten; 25 Euro; ISBN 978-3-462-00643-8; ausleihbar in der Hauptstelle der Stadtbücherei Münster: Signatur GEM RIC.
Triggerpunkte
Die Berliner Soziologen und Sozialwissenschaftler Mau, Lux und Westheuser identifizieren vier große Konfliktarenen in Deutschland: oben/unten-, innen/außen-, wir/sie- und heute/morgen-Ungleichheiten. Diese strukturieren den sozialen und spiegeln sich im politischen Raum.
Die Autoren diskutieren die historische und aktuelle Frage, wie das individuelle und kollektive, gesellschaftliche Bewusstsein entsteht und dabei der humane vernunftorientierte Mensch menschenwürdig, gut und gerecht leben kann. Eine Streitschrift gegen Ausgrenzung und für einen differenzierten Blick auf die Menschen.
Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser: Triggerpunkte; Berlin; Suhrkamp; 2023; 540 Seiten; 25 Euro; ISBN 978-3-518-02984-8; ausleihbar in der Hauptstelle der Stadtbücherei Münster: Signatur GCM MAU.
Aufbruch in Jackson
In „Aufbruch in Jackson” wird vom spannenden revolutionären Experiment in den USA berichtet, in dem schwarze Aktivist*innen die Befreiung von unten praktizieren. Arbeit und Ökonomie stehen neben dem Erreichen der Partizipation und der Übernahme der lokalpolitischen Macht in Jackson im Zentrum des Buches.
Wie die Vision einer lokalen Versammlungsdemokratie mit solidarischer Ökonomie bei gleichzeitiger Beendigung der rassistischen Ungleichheit möglich würde oder werden könne, wird mehr als ansatzweise in Jackson praktiziert und im Buch beschrieben. Parallelen zu den kommunalistischen Bestrebungen der Kurden in der Rojava und den Zapatistas in Mexiko werden deutlich.
Kali Akuno, Cooperation Jackson & Ajamu Nangwaya (Hg.): Aufbruch in Jackson; Münster; Unrast; 306 Seiten; 22 Euro; ISBN 978-3-89771-174-7.
- Buchrezensionen zum Thema: Was eint, was spaltet Gesellschaften - 21.01.2025
- Nullrunde und Kürzungen im Regelsatz 2025 - 20.01.2025
- Wissen was Freiheit heißt - 20.01.2025