● Das Märchen vom Fachkräftemangel ●
von Norbert Attermeyer
Der allseits beklagte Fachkräftemangel hat sich mit den Jahren zu einer großen Erzählung gemausert
Es gilt mittlerweile schon als Tatsache, dass der Mangel an Fachkräften in Zukunft die deutsche Wirtschaft hart treffen wird. Und der durchschnittliche Copy-and- Paste-Journalist macht sich nicht die Mühe, diese Thesen auch mal zu hinterfragen. Eine löbliche Ausnahme: die ARD am 21.Juli. Gut es war Montag, es war Hochsommer und es war um 22.45 Uhr. Aber immerhin. Und auch eine kurze Recherche im Netz zeigt Erstaunliches: Beim Thema Fachkräfte-mangel handelt es sich um ein Märchen.
HIER GEHT’S ZU DEN FAKTEN:
Besonders rührig ist bei diesem Thema der Verband Deutscher Ingenieure VDI. Wenn es darum geht, einen zukünftigen Mangel an Ingenieuren auszumalen, ist er ganz vorne mit dabei. Nur hilft alles lamentieren wenig, wenn die statistischen Zahlen nicht stimmen. Hier hat sich der VDI in Zusammenarbeit mit dem Institut der Wirtschaft Köln einen besonderen Trick ausgedacht. Man multipliziert einfach den Mangel. Und das geht so: Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit gibt es momentan für Ingenieure 13.428 offene Stellen. Der VDI multipliziert diese Zahl mit sieben und kommt so auf 94.000 offene Stellen. Wobei er sich die Zahl sieben frei ausgedacht hat. Diese offenen Stellen setzt er in Bezug zu den 22.284 arbeitslos gemeldeten Ingenieuren (die werden nicht mit 7 multipliziert). Und schon haben mir einen Mangel von 68.700 Ingenieuren. Malen mit Zahlen.
Der VDI weiß auch welcher Umsatzverlust durch diese fehlenden Ingenieure entsteht, nämlich acht Mrd. Euro. Diverse Verlautbarungen von Mittelstandsvereinigungen kommen sogar auf einen realen Verlust von 30 Mrd. Euro jährlich aufgrund fehlender Fachkräfte.
Gleichzeitig steigen und steigen die Unternehmensgewinne
Da passt was nicht zusammen. Es passt auch nicht ins Bild, dass es auf fünf offene Ingenieursstellen auch schon mal 300 Bewerbungen gibt. Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaft, DIW in Halle: „Die Unis quellen über. Wir werden Probleme haben, gerade die Leute, die gut ausgebildet sind, auf dem Arbeitsmarkt unter zu bringen.“ Denn die Geschichte vom Fachkräftemangel wird ja schon länger erzählt. Und viele junge Leute vertrau(t)en darauf, dass es stimmt: eine gute fachliche Ausbildung ist ein solides Fundament für die Zukunft. Und viele wachten erst beim Berufsstart wieder auf, als es hieß: mach doch erst mal ein Praktikum. Die Bundesagentur spricht von Fachkräftemangel, wenn auf eine Stelle nur drei passende Bewerber kommen. Es geht also nicht um null Fachkräfte, sondern um die Sicherstellung einer möglichst großen Auswahl.Und so trommelt der Chef der Bundesagentur Weise weiter ungerührt zum Thema Mangel: „Es braucht einer gezielten Zuwanderung von denen, die arbeiten wollen und die was können“, weiß Herr Weise.
Der Statistiker Prof. Dr. Gerd Bosbach sieht das eher nüchtern: „Herr Weise ist ein Interessenvertreter der Arbeitgeber: Schönreden von Arbeitslosenzahlen … und gleichzeitig Erfüllungsgehilfe dafür, dass wir möglichst viele und möglichst billige Fachkräfte nach Deutschland bekommen.“ Und um dies weiterhin zu bewerkstelligen schlägt die wirtschaftliche Logik der Bundesregierung schon mal Kapriolen, wie man am Beispiel des Zuzugs von ausländischen ArbeitnehmerInnen sehen kann: Bisher war es so geregelt, dass eine außereuropäische Spitzenfachkraft (z.B. Ingenieur) mindestens ein Jahresgehalt von 66.000,- Euro nachweisen musste, um in Deutschland einen geregelten Aufenthalt, die so genannte Blue Card zu erhalten. Jetzt reichen schon 32.000,- Euro aus.
Eine Veränderung, die für jeden Volks-oder Betriebswirt völlig absurd erscheinen muss. Wenn es einen Mangel an Fachkräften geben würde, dann müssten die Löhne steigen und nicht sinken. Die Gesetze von Angebot und Nachfrage werden hier mal eben auf den Kopf gestellt. Aber es geht und ging nie um fehlende Fachkräfte, sondern es geht und ging immer um billige Fachkräfte. Und wenn es genügend billige Fachkräfte gibt, dann hat das auch eine direkte Auswirkung auf die Löhne in Deutschland. Eine dämpfende nämlich.
Angebot und Nachfrage funktionieren eben doch
Nur jetzt ganz im Sinne der Arbeitgeberseite. Die Löhne in Deutschland stagnieren, die Gewinne sprudeln. Und damit das so bleibt, brauchen wir auch weiterhin das Märchen vom Fachkräftemangel. Der Vollständigkeit halber: Es gibt einen tatsächlichen Fachkräftemangel im Pflegebereich. Aber dieser Mangel ist hausgemacht. Arbeitsbedingung und Löhne sind in diesem Bereich nahezu skandalös. Hier könnte die Politik mit der Festsetzung von Standards viel bewegen. Aber hat sie auch den Mut dazu? Andrea Nahles wurde in der ARD zum Thema Fachkräftemangel befragt. Die vieldeutige Antwort aus dem Arbeitsministerium lautete: „Die Ministerin hat sich bislang noch kein Meinungsbild zum Thema Fachkräftemangel bilden können und wird auch bis Herbst dazu noch keine Position beziehen können.“ Na dann warten wir mal auf den Winter in der Hoffnung, dass auch mal ganz oben der Groschen fällt …
- Die Armut ist viel größer als angenommen - 20.12.2019
- Katholische Kirche stellt die Systemfrage - 18.12.2019
- Vorsicht Arbeit ! - 16.12.2019