DGB legt Tariffluchtbilanz vor und startet Kampagne für mehr Tarifschutz
Gastbeitrag von Carsten Peters*
Kaum mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen werden in Deutschland nach Tarif bezahlt. Das ist das Ergebnis einer jahrelangen Entwicklung, in der sich zunehmend Arbeitgeber ihrer Tarifpflicht entzogen oder einen Tarifvertrag aufgekündigt haben. Eine nicht bloß für die direkt Betroffenen problematische Entwicklung, sondern genauso für die gesamte Gesellschaft .
Auf insgesamt rund 130 Milliarden Euro beziffert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) den Schaden, der durch Tarifflucht und Lohndumping der Arbeitgeber hierzulande entsteht. Sozialversicherungen und Fiskus entgehen Milliarden Euro, ebenso wird die Kaufkraft in erheblichem Ausmaß geschmälert. Das belegen neue Berechnungen des DGB auf Basis von exklusiven Daten des Statistischen Bundesamtes. Der DGB startet jetzt eine bundesweite Kampagne für mehr Tarifschutz. Unter dem Motto „Eintreten für die Tarifwende“ soll deshalb nicht nur über das Thema informiert, sondern auch der Druck auf Arbeitgeber und Politik erhöht werden.
Aktuell profitieren nur noch rund die Hälfte aller Beschäftigten hierzulande von tarifvertraglichen Regelungen und ihrem Schutz. Mit Tarifverträgen gibt es mehr Freizeit, mehr Lebensqualität, aber insbesondere auch höhere Gehälter. Bei gleicher Tätigkeit haben Beschäftigte mit Tarifvertrag im Schnitt 12 Prozent mehr Geld in der Lohntüte – und zudem auch öfter Urlaubs- und Weihnachtsgeld.
Tarifverträge bieten aber auch mehr Sicherheit in Krisenzeiten, etwa durch bessere Regeln für das Kurzarbeitergeld.
Geringere Einkommen haben auch weniger Einnahmen für die Sozialversicherungen, also für Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung zur Folge. Auch die Steuereinnahmen durch die Einkommensteuer fallen geringer aus. Mit seiner Tariffluchtbilanz hat der DGB diese Kosten berechnet und fordert eine Tarifwende.
Bilanz der Tarifflucht ist erschreckend
Den Sozialversicherungen in Deutschland entgehen jährlich rund 43 Milliarden Euro an Beiträgen. Bund, Länder und Kommunen nehmen zirka 27 Milliarden Euro weniger an Einkommensteuer ein, hat der DGB ermittelt. Die mangelnde Tarifbindung wirkt sich darüber hinaus unmittelbar auf die Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung aus: Mit einer flächendeckenden Tarifbindung hätten die Beschäftigten insgesamt rund 60 Milliarden Euro mehr pro Jahr im Portemonnaie.
Über ganz Deutschland und über alle Branchen hinweg betrachtet, bedeutet das unter dem Strich: Beschäftigte ohne Tarifvertrag haben jährlich durchschnittlich 3022 Euro netto weniger auf ihrem Konto als Tarifbeschäftigte.
Der DGB fordert, dass öffentliche Aufträge und Fördergelder generell nur an Unternehmen vergeben werden, die Tarifverträge anwenden. Auch für die Privatwirtschaft sind bessere Gesetze notwendig, um die Tarifbindung zu stärken: Im Falle einer Auf- oder Abspaltung eines Unternehmens sollten Tarifverträge bis zu einer neuen Regelung fortgelten. Zudem muss es leichter werden, Tarifverträge für alle Unternehmen einer Branche allgemeinverbindlich zu erklären. Die DGB-Berechnungen basieren auf der jüngsten Verdiensterhebung (VE), die das Statistische Bundesamt zuletzt für das Jahr 2022 erhoben hat.
Die Situation in NRW
In Nordrhein-Westfalen werden aktuell 57 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt. Damit weist das industriell geprägte NRW zwar die höchste Quote unter allen Bundesländern auf, sie ist aber seit Mitte der 1990er-Jahre deutlich gesunken. Andere Länder tun inzwischen mehr zur Sicherung und Stärkung der Tarifbindung.
„Während Nordrhein-Westfalen einmal über das fortschrittlichste Landestariftreuegesetz verfügte, ist es mittlerweile bundesweit vom Vorreiter zum Nachzügler geworden“, erklären die Autoren einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Denn während andere Bundesländer umfassende Regelungen zur Tariftreue einführten, habe NRW sein Vergabegesetz in den vergangenen Jahren stark eingeschränkt, so die Forscher Schulten, Bispinck und Lübker.
Das wichtigste Ergebnis ist, dass in NRW 57 Prozent der Beschäftigten aktuell nach einem Tarifvertrag bezahlt werden. Im bundesweiten Durchschnitt liegt die Tarifbindung bei 51 Prozent. Der Anteil der Beschäftigten, die in NRW nach Tarif bezahlt werden, lag 1996 noch bei 82 Prozent. Seither ging er erheblich zurück und erreichte Mitte der 2000er-Jahre nur noch 65 Prozent. Einige Jahre verharrte die Tarifbindung auf diesem Niveau, seit Mitte der 2010er-Jahre sank sie wieder und erreichte in den Jahren 2019 und 2020 ihren bisherigen Tiefpunkt.
Tarifbindung eher in großen und älteren Unternehmen mit Betriebsrat
Die Tarifbindung der Beschäftigten in NRW reicht von 34 Prozent im Einzelhandel bis zu 97 Prozent in der öffentlichen Verwaltung. Die Wahrscheinlichkeit, nach Tarif bezahlt zu werden, steigt insgesamt mit der Größe des Betriebes. Gleiches gilt für das Betriebsalter: Während 46 Prozent der vor 1990 gegründeten Betriebe tarifgebunden sind, sind es unter den seit 2010 gegründeten lediglich 25 Prozent.
Tarifbindung funktioniert dann besonders gut, wenn Betriebsräte sich um die Umsetzung der Tarifverträge kümmern. In NRW arbeiten allerdings nur 45 Prozent aller Beschäftigten in einem Unternehmen mit Betriebs- oder Personalrat. Lediglich 38 Prozent sind in einem Betrieb mit Betriebsrat und Tarifvertrag tätig. Ähnlich wie die Tarifbindung ist auch die Verbreitung von Betriebsräten in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen.
In NRW wie bundesweit haben Beschäftigte in tarifgebundenen Unternehmen kürzere Arbeitszeiten. 2019 arbeiteten sie in NRW im Durchschnitt 38,4 Stunden pro Woche und damit eine Stunde weniger als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne Tarifvertrag.
Beschäftigte verdienen deutlich weniger, wenn ihr Arbeitgeber nicht an einen Tarifvertrag gebunden ist. Auch das ist in ganz Deutschland so. In NRW beträgt der unbereinigte Rückstand beim Entgelt knapp 18 Prozent. Dies lässt sich teilweise mit den Unterschieden zwischen den Betrieben erklären, wie zum Beispiel der Branche, der Betriebsgröße und der Qualifikation der Beschäftigten. Aber selbst wenn diese Unterschiede statistisch berücksichtigt werden, beträgt der Lohnrückstand für Beschäftigte in tariflosen Betrieben im Mittel noch immer knapp acht Prozent gegenüber Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben mit ähnlichen Merkmalen – bei längerer Arbeitszeit.
Stärkere Tarifbindung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Für eine Stärkung der Tarifbindung brauche es ein Bündel von Maßnahmen, betonen Schulten, Bispinck und Lübker. Dazu müssten alle relevanten Akteure, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, aber auch Staat und Gesellschaft, ihren Beitrag leisten. Während die Gewerkschaften ihre eigene Organisationsmacht ausbauen müssten, seien die Arbeitgeberverbände gefordert, offensiv für das Tarifvertragssystem einzustehen und Tarifflucht über sogenannte „OT-Mitgliedschaften“ (ohne Tarifbindung) in Arbeitgeberverbänden zu beenden. Die Arbeitgeberverbände müssten diese Möglichkeit der OT-Mitgliedschaften abschaffen, weil sie auf diese Weise Lohndumping förderten. Die Politik müsse unterstützend wirken, indem sie Tariftreuegesetze für öffentliche Ausschreibungen einführe und bessere Möglichkeiten schaffe, Tarifverträge allgemeinverbindlich zu erklären.
Sind unseren Leser*innen Fälle von Tarifflucht bekannt, über die wir in der SPERRE berichten können?
Meldet Euch unter carstenpeters@gmx.de.
* Gastautor Carsten Peters ist stellvertretender DGB-Stadtverbandsvorsitzender.
Quelle: HBS
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