In den letzten Wochen und Monaten hat unser Land so einiges erleben können an Hetze gegen Minderheiten. In der Regel völlig faktenfrei wurde von einigen Politiker*innen und Medien abgelästert und verächtlich gemacht, was das Zeug hält. Und das häufig auch aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Im folgenden Beitrag soll es mal um das gehen, was Arbeitslose in den vergangenen Monaten so alles erdulden mussten.
Zunächst wurde die Anhebung der Regelsätze zum Beginn dieses Jahres als viel zu üppig und unangemessen dargestellt. Die Regelsätze wurden, wie allgemein bekannt ist, in der Spitze um mehr als 60 Euro erhöht. Es wurde in Frage gestellt, dass bei einem solch üppigen Bürgergeld überhaupt noch jemand bereit wäre, eine Arbeit aufzunehmen.
Die Zeitung, in die man Fische einwickelt, war ganz vorne mit dabei bei der Kritik an dieser Erhöhung. Und viele Politiker*innen mischten munter mit. In der ersten Reihe CDU-Politiker*innen, wie der Parteivorsitzende Friedrich Merz, der Generalsekretär der Union, Carsten Linnemann, und der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn. Sie unterstellten, dass die Regelsatzerhöhung die Arbeitslosen faul machen würde.
Die Anhebung des Regelsatzes gleicht gerade mal das Minus aus 2023 aus
Und sie schafften es tatsächlich, dass der von ihnen geschürte Neid auf arme Menschen verfing. Kaum eine Talk-Show kam noch ohne das übliche Ablästern über Arbeitslose und das Bürgergeld aus. Und die Regierung musste sich erklären.
Was allerdings bei dieser ganzen Aufregung immer geflissentlich verschwiegen wurde, war die Tatsache, dass im vergangenen Jahr bei einer Inflationsrate zwischen 12 und 16 Prozent die Regelsätze um gerade einmal drei(!) Euro angehoben wurden. Die aktuelle Anhebung des Regelsatzes gleicht also gerade einmal das Minus aus dem vergangenen Jahr aus. Von einer wirklichen Regelsatzerhöhung sind wir nach wie vor weit entfernt.
Der Regelsatz müsste, um bescheidene gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, mindestens 720 Euro betragen. So jedenfalls die Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Tatsächlich liegt er jetzt bei 562 Euro. Die Armutsnähe ist weiterhin staatlich garantiert. Also war die ganze Aufregung umsonst? Natürlich nicht.
Für die oben genannten Kritiker war schon dieser Regelsatz eine Einladung, um faul in der sozialen Hängematte zu liegen. Der Ruf nach dem strafenden Staat wurde laut. Auch Münsters Bürgermeister Markus Lewe wollte da nicht abseits stehen. In einem Interview der Lokalzeitung Westfälische Nachrichten (WN) äußerte er sich so: „Die Frage ist doch, ob das Bürgergeld ausreichend Anreize lässt, einer Arbeit nachzugehen? Natürlich gibt es Bürgergeld-Bezieher, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Wir machen aber auch in Münster die Erfahrung, dass Stellen nicht besetzt werden, weil manche lieber Bürgergeld beziehen.“
Die Sanktionsquote ist mit bundesweit 0,2 Prozent unterdurchschnittlich
Da hätte Herr Lewe doch besser die Fachleute befragt, bevor er sich zu solchen Aussagen hinreißen lässt. Ralf Bierstedt, der Geschäftsführer des Jobcenters Münster, äußerte sich jedenfalls in einem Interview der Lokalpresse zu diesem Thema deutlich zurückhaltender:
„Die Sanktionsquote lag beim letzten Bericht des Jobcenters im November 2023 mit 0,2 Prozent aller Leistungsbezieher deutlich unter dem Schnitt in Land und Bund.“ Mit anderen Worten: 99,8 Prozent der Bürgergeldbezieher*innen in Münster sind hiervon gar nicht betroffen. Gleichwohl sieht unser Bürgermeister hier ein großes Problem. Wie soll man sowas nennen? Populismus, Fake News?
Was die Protagonisten der „faule Arbeitslose-Kampagne“ vielleicht irritieren könnte, ist die Erkenntnis des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Denn das Leben von Bürgergeld-Bezieher*innen ist keinesfalls so rosig, wie Linnemann und Merz uns dies ausmalen: Viele Unterlagen müssen eingereicht, die komplette finanzielle und persönliche Situation muss offengelegt werden. Zahlreiche Anträge mit zum Teil komplizierten Fragen sind in den Antragsformularen zu beantworten. Immer wieder sind neue Dokumente einzureichen, wenn sich aus den Informationen der Antragstellung nur Fragen ergeben.
43 bis 56 Prozent der Berechtigten verzichten laut DIW auf Leistungen
Vermieter können durch Direktzahlungen involviert werden, direkte Angehörige werden überprüft. Kein Wunder also, dass das DIW herausgefunden hat, dass die Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen des Jobcenters erschreckend hoch ist. Das DIW spricht hier von 43 bis 56 Prozent der Berechtigten, die auf diese Leistungen verzichten und sich anderweitig durchschlagen. Diese Zahl nimmt im Alter noch einmal zu. Hier schätzt das DIW, dass 60 Prozent der Anspruchsberechtigten keinen Antrag stellen. In Wirklichkeit ist die erfasste Armut in Deutschland doppelt so hoch.
Und da erzählen uns Merz und Kollegen, wie verlockend doch der Bezug von Bürgergeld sei. Aber machen wir uns nichts vor, mit Armen als Sündenbock lassen sich Wahlkämpfe immer aufs Neue gut bestreiten. Diese Menschen haben nämlich keine gute Lobby. Und Weihnachten ist ja nun wirklich vorbei.
Der Geschäftsführer des Jobcenters Münster weist übrigens in diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Aspekt hin: Sanktionen – so Bierstedt im weiteren Verlauf des Interviews – haben auch Nebenwirkungen. Er spricht damit die womöglich nachlassende Nachhaltigkeit der Beratung und Arbeitsförderung des Jobcenters an, sprich: Es würden zwar kurzfristig Arbeitsangebote angenommen, aber auch umso schneller wieder aufgegeben. Das widerspreche der Intention des Jobcenters und der Unterstützung durch das Bürgergeld, die „möglichst zu einer langfristigen Integration in den Arbeitsmarkt führen“ solle, soweit Bierstedt in den WN. Und er verweist damit auf die Tatsache, dass das alte Hartz-4-Regime mit Druck und Sanktionen nur dauerhafte Langzeitarbeitslosigkeit produziert habe und – so die Einschätzung vieler Expert*innen – im Grunde gescheitert sei.
Dies war der Grund, warum die neue Regierung, dem Rat der Fachleute folgend, mit dem Bürgergeld deutlich einen weiteren Schwerpunkt auf den Bereich Weiterbildung und Umschulung legte. Doch dann kam die Rolle rückwärts. Angetrieben durch die Zeitung, mit der man nicht mal Fische einwickelt, und mit kräftiger Unterstützung von wieder einmal Merz, Spahn und anderen Politiker*innen beschloss die Ampel-Regierung für Menschen, die eine zumutbare Arbeit verweigern, eine komplette Streichung des Lebensunterhalts für zwei Monate. Eine so weitgehende Sanktion hatte sich bis dahin noch keine Regierung getraut und die Zeitung mit den Fischen hatte jetzt mal ein Lob für die Regierung. Viele Fachleute waren dagegen eher entsetzt.
Die Lösung der gesellschaftlichen Probleme liegt nicht in erhöhten Sanktionen
Die Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) Bettina Kohlrausch spricht deutlich aus, was viele denken. Sie sagt, die Annahme, dass höhere Sanktionen Arbeitsanreize schafften, sei populistisch und durch keine empirischen Belege gestützt. die meisten Menschen wollten arbeiten und die Grundvoraussetzungen dafür seien nicht nur materielle Teilhabe, sondern auch soziale Anerkennung sowie demokratische Teilhabe. Die Zahl von Fällen, in denen Menschen lieber Bürgergeld bezögen, sei verschwindend gering. Es sei unsinnig zu glauben, dass die Lösung gesellschaftlicher Probleme in erhöhten Sanktionen liege. Sie warnt vor einem sehr verengten Leistungsgedanken, der immanent eine Abwertung von Menschen vornimmt, die vermeintlich nicht leistungsorientiert seien und damit auch keinen Nutzen für die Gesellschaft hätten. Und sie führt weiter aus: „Was möchte man eigentlich für eine Gesellschaft sein? Wen betrachtet man für zugehörig? Und wenn man anfängt, die Frage der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft entlang der Frage von Nutzen oder Nicht-Nutzen zu diskutieren, dann wird das eine verhärmte Gesellschaft, dann wird das eine ausgrenzende Gesellschaft.“
Der ehemalige bundespräsident Gustav Heinemann (SPD) hat das mal so ausgedrückt: „Der Wert einer Gesellschaft lässt sich daran erkennen, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht.“
So gesehen ist es um uns nicht gut bestellt. Zur Vernunft mahnende Stimmen gibt es zwar zur Genüge. das Sagen haben aber die Lautsprecher wie Jens Spahn etwa, der, um die komplette Leistungsentziehung zu untermauern, sogar eine Änderung der Verfassung ins Spiel brachte. Denn – und das weiß Spahn – eine vollständige Entziehung der Sozialleistungen ist von unserem Grundgesetz nicht gedeckt. Um einem Schiffbruch vor der obersten Instanz vorzubeugen, möchte er nun schnell die Verfassung ändern. Da hätte er sich aber besser vorher juristischen Rat geholt. denn die beiden Artikel des Grundgesetzes, um die es dabei geht (Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und Artikel 20 „Das Sozialstaatsprinzip“) können nach Artikel 79 Abs. 3 GG nicht verändert werden, haben also eine sogenannte „Ewigkeitsgarantie“. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten offenbar verhindern, dass davon auch nur ein Jota abgerückt wird.
Entweder kriegt die Gesellschaft die Hetzer in den Griff oder die Hetzer die Gesellschaft
Auffällig ist, dass die Kritiker*innen einer Regelsatzerhöhung und der damit angeblich einhergehenden Unwilligkeit zu arbeiten sich bei einer deutlichen Anhebung des Mindestlohns sperren. Könnte es sein, dass es dabei gar nicht um Gerechtigkeit geht, sondern um den Erhalt und die Förderung unserer Billiglöhne? Denn die Anhebung des Mindestlohns wirkt sich genau dort positiv aus, wo Merz und Spahn ansonsten Kritik üben: der Weigerung, eine zumutbare Arbeit anzunehmen. Die Zahlen der Arbeitsagentur lassen hier keinen Zweifel: Seit Einführung und regelmäßiger Anhebung des Mindestlohns sind die Sanktionen wegen Arbeitsverweigerung deutlich zurückgegangen.
Worum geht es also den Kritikern? Um die Absicherung der Gewinne im Billiglohnbereich? Die Blöd-Zeitung hat jedenfalls ihren ehemaligen Lieferservice (pin-mail) mit Einführung des Mindestlohns direkt wieder eingestellt. Und lästert jetzt über Arbeitslose, die nicht bereit sind, jeden Mistjob anzunehmen.
Um es hier noch einmal klarzustellen: Nach den Zahlen der Arbeitsagentur sind 98 Prozent der Arbeitslosen von dieser Diskussion gar nicht betroffen. Die Zahlen für die angebliche Arbeitsverweigerung sind, wie oben schon erwähnt, verschwindend gering. Trotzdem wird darüber diskutiert, als drohe der Untergang des Abendlandes.
Dabei muss klar sein: Mit Hetze und Ausgrenzung ist kein Staat zu machen! Entweder kriegt die Gesellschaft die Hetzer in den Griff oder die Hetzer die Gesellschaft. Im letzteren Fall sieht es schlimm aus für eine solidarische, tolerante und weltoffene Gesellschaft. Aber hier geben die zahlreichen Demonstrationen in den vergangenen Wochen Anlass zu Mut und Zuversicht. Packen wir’s an!
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