Vorurteile über Zuwanderung
Von Christoph Theligmann
Kein anderes Wahlkampfthema steht so im Zentrum der öffentlichen Debatten wie das der Zuwanderung. Und in fast keiner gibt es so viele irreführende Meldungen und Berichte. Denn vieles ist falsch, was über die Migration medial verbreitet wird.
Das politische Thema, das alle anderen verdrängt, ist das Thema Migration – zumindest in den westlichen Demokratien. Der Streit über die Zuwanderung in all ihren Formen, den Zuzug von Fachkräften bis hin zu Flüchtlingen, verändert die Gesellschaften. Das Streitthema verhalf Donald Trump zu seinem Sieg zum US-Präsidenten 2016. Dieses Thema machte auch den Brexit möglich. Die Kontroverse stärkt rechtspopulistische Kräfte in ganz Europa. Doch es gibt Ansichten über Migration, die sich bei näherer Betrachtung als falsch erweisen.
Die gegenwärtige Einwanderung bricht alle Rekorde
„Wir leben im Zeitalter einer nie da gewesenen Massenmigration. Durch Völkerwanderungen gerät alles außer Kontrolle.“ Ständig vermitteln viele Politiker*innen und Medien in ihren Reden diesen Eindruck.
Noch Anfang des 20. Jahrhunderts flohen viele Menschen aus Europa. Heute ist der Kontinent eines der wichtigsten Ziele von Migrant*innen. Doch global gesehen trifft das Gerede von der rekordhohen Migration nicht zu. Zwar ist die Zahl der internationalen Migrant*innen gestiegen, von 93 Millionen im Jahr 1960 auf 247 Millionen in 2017.
Doch die Weltbevölkerung nahm prozentual in dieser Zeit in gleichem Maße zu. Der Anteil der Migrant*innen liegt stabil bei rund drei Prozent der Weltbevölkerung. Der Anteil der Flüchtlinge an der Weltbevölkerung bleibt seit den 1950er-Jahren nahezu konstant. Je nachdem, wo und in welcher Schwere ein Konflikt ausbricht, eine fundamentale Krise folgt, kann er regional ansteigen. Woher kommt also die Vorstellung, dass es immer mehr Migranten werden? Dass es immer mehr Flüchtlingswellen gibt? Aussagen und Kampagnen rechter Politiker*innen sind da zuerst als Gründe zu nennen, denn mit Angstmacherei wollen sie Wahlen gewinnen – und manchmal gewinnen sie sie auch.
Entwicklungshilfe dämmt die Migration ein
Um die Migration zu bremsen, muss man die Fluchtursachen bekämpfen, allen voran die Armut. Mehr Entwicklungshilfe führt dazu, dass weniger Migranten ihre Heimat verlassen.
Der Zusammenhang klingt erst einmal plausibel: Wenn Menschen in armen Ländern vor Ort genügend Lebenschancen besitzen, nimmt auch der Wunsch ab, sich im Ausland ein neues Leben aufzubauen.
Nur, ist das richtig? Führt mehr Entwicklungshilfe tatsächlich dazu, dass sich weniger Menschen auf den Weg nach Europa oder in die USA machen? Eher das Gegenteil ist richtig. Die Migration nimmt zu, wenn arme Länder reicher werden! Mit steigendem Vermögen und zunehmender Bildung erhalten die Menschen in armen Ländern mehr Möglichkeiten zum Verlassen des Landes. Zumal Entwicklung auch die Zahl der Bedürfnisse steigen lässt. Wenn Menschen die Schule besuchen, Medien konsumieren, Handys besitzen und selbst reisen können, weitet sich ihr geistiger Horizont, ihre Erwartung auf ein besseres Leben.
Dann kann Entwicklungshilfe die Auswanderung aus sehr armen Ländern sogar befördern, indem sie ihren Menschen Mittel und Wege dazu ermöglicht. Alles vergebens also? Nein, es gibt nämlich auch indirekte Effekte der Entwicklungszusammenarbeit. Wenn man es schafft, die Staatlichkeit zu stärken, die Korruption zu bekämpfen und Konfliktprävention zu betreiben, gibt es weniger gewaltsame Auseinandersetzungen, die die Menschen in die Flucht treiben.
Oft steckt die Vorstellung dahinter, dass es sich bei der Migration – auch der illegalen – um eine irrationale Verzweiflungstat handelt. So dominieren In der öffentlichen Debatte Geschichten über Armut und Gewalt, die Menschen zur Ausreise zwingen. Das entspricht den westlichen Vorurteilen über die Entwicklungsländer, über Elend und Tyrannei, denen alle entkommen wollen. Die Wirklichkeit ist aber eine andere. In der Regel ist Migration keine verzweifelte Flucht, sondern ein kalkulierter Aufwand für eine bessere Zukunft.
Der Klimawandel löst Fluchtbewegungen ganzer Völker aus
Die steigenden Temperaturen werden die Lebensgrundlage für die Menschen im globalen Süden vernichten. Der Klimawandel wird zum Auslöser einer neuen Massenmigration.
Klimawandel und Massenflucht: In den Köpfen vieler Menschen ist beides untrennbar miteinander verbunden. Die Folgen der Erderwärmung – steigende Meeresspiegel, Überschwemmungen, Hitzewellen und Dürren – lösen in der Vorstellung vieler eine Völkerwanderung vom Süden in den Norden aus.
So schätzt zum Beispiel die Weltbank, dass bis zum Jahr 2050 bis zu 216 Millionen Menschen zu Klimaflüchtlingen werden könnten. Der Klimawandel ist real, die Massenflucht ist es aber bisher nicht. Die entsprechenden Prognosen sind unzutreffend nach allem, was man aus der Forschung über das Wechselspiel zwischen Umweltveränderungen und Migration weiß. Die Umweltbedingungen bilden einige der vielen Faktoren, die Menschen zur Auswanderung bewegen, aber nie die einzigen; der Klimawandel ist nicht die Hauptursache.
Die apokalyptischen Berichte über Gegenden, die im Meer versinken, übersehen nämlich: In vielen Küstengebieten und Inselstaaten wird der Anstieg des Meeresspiegels durch die vermehrte Ablagerung von Sedimenten und die Entstehung von neuem Land kompensiert. Selbstverständlich, zerstörte Natur und Überflutungen können Menschen zur Flucht zwingen. Doch zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass die Menschen es nach einer Umweltkatastrophe vorziehen, ihre Heimat nicht zu verlassen, und überwiegend alles tun, um dort bleiben zu können. Die meisten Menschen fliehen nur vorübergehend und über kurze Distanzen ins Umland oder in eine nahe gelegene Stadt.
Rigorose Abschottung verringert die Zuwanderung
Um die Migration zu bremsen, muss man sie möglichst erschweren. Nur mit restriktiven Einwanderungsgesetzen und einem rigorosen Grenzschutz hält man Einwanderung auf.
Es klingt einleuchtend: Je schärfer die Bedingungen, die eine Regierung für das Erteilen von Aufenthaltsbewilligungen erlässt, und je höher die Mauern, die sie an den Grenzen hochzieht, desto weniger Einwander*innen kommen ins Land. Das Problem dabei: Es gibt mindestens vier unbeabsichtigte Effekte, die erklären, warum sich harte Beschränkungen der Migration oft anders auswirken als geplant.
Da ist erstens: Zuwanderungsbeschränkungen in einem Land lenken die Migration einfach zu anderen Zielorten um.
Da ist zweitens die Tatsache, dass die Beschränkungen Zuwander*innen in den Untergrund zwingen. Man sieht das gut an den USA, wo bisher alle Bundesregierungen die legale Einwanderung erschwerten, aber nicht verhindern konnten, dass immer mehr Migrant*innen ins Land drängten.
Ein dritter Effekt: Abschottungspolitik führt dazu, dass sie eigentlich befristet anwesende Zuwander*innen zum dauerhaften Aufenthalt zwingt, weil diese im Fall einer Ausreise befürchten müssen, nicht wieder zurückkehren zu können. Solange die Grenzen offen sind, verläuft Migration oft zirkulär und folgt der Wirtschaftslage. Das heißt: Bei einer wirtschaftlichen Flaute kehren viele Migranten für einige Jahre auch in ihre Heimat zurück.
Schließlich die Tatsache, dass harte Zuwanderungsstopps oft mit einem rasanten Anstieg von Migrant*innen verbunden sind, die den Beschränkungen zuvorkommen möchten.
Die Einwanderung schafft Parallelgesellschaften
Die starke Zuwanderung der vergangenen Jahre ist in Europa unweigerlich mit der Entstehung von Migranten-Ghettos verbunden.
Sie machen die Integration ganzer Gruppen unmöglich. Wird in Europa über Zuwanderung gestritten, fällt oft der Verweis auf Gegenden, die stark von ausländischen Gemeinschaften geprägt sind: Berlin-Neukölln, die Pariser Banlieues, der Stadtteil Molenbeek in Brüssel. Von sozialen Brennpunkten ist dann die Rede, in die sich nicht einmal mehr die Polizei wage. Nicht selten fällt der Vergleich mit US-amerikanischen Innenstädten, die noch immer durch Rassentrennung gekennzeichnet sind.
Die Angst vor Gegenden, in denen Migrant*innen abgeschlossen von der Außenwelt leben, ist verbreitet. Aber ist sie auch begründet? Es ist nicht zu leugnen, dass einige Migrantenviertel in Europa zu diesen sozialen Brennpunkten geworden sind. Doch das sind Ausnahmen. Insgesamt hat die starke Zuwanderung in Europa nicht zur Isolation ganzer Gruppen geführt.
Es gibt eine unter Geographen verbreitete Kennzahl, die die Entmischung von Wohnvierteln misst: den „Dissimilaritäts-Index“. Ein Wert von 0 bedeutet, dass alle Viertel einer Stadt exakt dieselbe ethnische Mischung aufweisen. Ein Wert von 100 steht für eine vollkommene Entmischung: Alle ethnischen Gruppen leben voneinander isoliert. Werte über 60 gelten unter Wissenschaftlern als hoch, Werte unter 30 als niedrig.
Die meisten europäischen Städte haben tatsächlich ein moderates Niveau. In deutschen Städten wie Düsseldorf etwa steht der Index von Türken bei 30, in Paris für Algerier bei 23. Das heißt nicht, dass die Probleme in einigen Stadtteilen nicht real sind. Sie sind jedoch nicht repräsentativ für die Erfahrung der gesamten Zuwanderungsgeschichten. Dort, wo sich eine Ghettobildung zeigt, ist das meist ein Resultat einer verfehlten Wohnungsbaupolitik.
Fazit
Verbreitete Mythen, falsche Annahmen, Missverständnisse: Wenn es um Migration geht, stecken alle Demokratien im gleichen Dilemma, ja sogar in einem Trilemma: Da ist erstens der Wunsch, die Zuwanderung zu kontrollieren. Da ist zweitens die Nachfrage der Wirtschaft nach mehr Arbeitskräften. Und da ist drittens der Schutz der Menschenrechte der Migrant*innen. Eine Gesellschaft kann nur versuchen, diese widersprüchlichen Ziele immer wieder neu auszuhandeln. Sie alle gleichzeitig zu erfüllen, das ist und bleibt anstrengend.
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