SPERRE: Herr Bierstedt, wie fühlt es sich an, nach fast 14 Jahren die Leitung des Jobcenters Münster zu verlassen und wie waren Ihre Erfahrungen mit den zahlreichen Reformen des SGB-II?
Ralf Bierstedt: Ich würde vielleicht 20 Jahre zurückgehen in die Zeit, als ich in verschiedenen Kreisbehörden, etwa in Minden-Lübbecke, tätig war. Damals wurde die Sozialhilfe für Arbeitslose und andere Leistungen in zwei separaten Behörden verwaltet, die jedoch fast identisch waren. Die Hauptidee war, zu einer Fusion beizutragen. Rückblickend betrachtet habe ich an mehreren Veränderungsprozessen teilgenommen. Natürlich ist es nicht dasselbe, in einer städtischen Institution zu arbeiten oder für ein Kreisgebiet zuständig zu sein. Für mich war der Wechsel nach Münster eine positive Erfahrung. Von Anfang an war mir klar, wie wichtig es ist, unsere gesellschaftlich relevanten Aufgaben ernst zu nehmen. Wir haben viele Krisen überstanden und trotzdem in diesen 14 Jahren vielen Menschen geholfen. Wir hatten das Hochwasser im Jahr 2014, die Flüchtlingskrise, die Corona-Krise. Wir haben Hunderten von Menschen geholfen, die zum Beispiel damals vor dem Gebäude Schlange standen, um Hilfe zu beantragen. Wir haben eine Vielzahl von Plänen und Maßnahmen ergriffen, damit die Menschen nicht in noch schlimmere Situationen geraten.
Warum gibt es dann jetzt den Druck aus der Bundesregierung, beispielsweise die Hilfe für Jugendliche nach der Bürgergeldreform wieder vom Jobcenter abzutrennen?
Bierstedt: Ich nehme an, Sie beziehen sich auf die aktuelle Diskussion um die Kindergrundsicherung. Ich verstehe es als eine große politische Leistung. Es handelt sich um die Vision einer Partei, die dafür plädiert, dass Kinder und Jugendliche aus dem System der Grundsicherung rausgenommen werden. Im Jobcenter haben wir aber geholfen, ein starkes und funktionierendes Netzwerk für die berufliche Ausbildung von Jugendlichen aufzubauen. In den guten Jahren haben wir die Quote von 400 Plätzen und Positionen für Auszubildende erreicht, die erfolgreich ins System integriert wurden. Die Jugendlichen sollten und müssen bei uns im Jobcenter bleiben.
Wann hat sich eigentlich der Begriff „Kunde“ für die Empfänger von Leistungen durchgesetzt?
Bierstedt: Landläufiger Standard. Das hat genau mit der Reform von 2005 zu tun. Seitdem hat sich der Begriff etabliert. es ist kein Begriff, der im SGB-II-Gesetz vorgesehen ist, aber er hat sich im Volksmund durchgesetzt. Deshalb spricht man intern immer noch von Kundin und Kunde.
Apropos Semantik. Wie neu sind die Begriffe „Digitalisierung“, „Qualifizierungschancengesetz“ oder sogar „Qualifizierung“ für das Jobcenter?
Bierstedt: Natürlich sind das keine neuen Begriffe. Das Qualifizierungschancengesetz gilt seit 2019, wenn ich mich nicht irre. Es handelt sich nicht um einen neuen Trend, wir wollen, dass die Menschen die Möglichkeit haben, sich weiterzubilden und zu qualifizieren, damit sie nachhaltig in ihren Arbeitsplätzen integriert bleiben können, was beim Thema Fachkräftemangel und Qualifikation von Bedeutung ist. Die Digitalisierung ist zwar ein neues Thema, wurde aber durch Corona turbulenter, insbesondere für unsere Arbeit im Jobcenter. Im Jahr 2020 haben wir mit digitalen Akten begonnen, um, soweit möglich, Papier zu vermeiden und digitale Formulare einzuführen. Heute können Sie von Ihrem Sofa aus einen elektronischen Antrag ausfüllen und einreichen.
Qualifizierung bedeutet aber mehr…
Bierstedt: Wir stellen heute eindeutig fest, dass der Arbeitsmarkt weniger aufnahmefähig ist und weiterhin eine hohe Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften besteht. Die Personen, die im Jobcenter Sozialleistungen erhalten, sind nicht alle qualifizierte Arbeitskräfte, sondern benötigen oft zusätzliche Unterstützung. Viele haben psychosoziale Schwierigkeiten, chronische Krankheiten, Probleme mit der Wohnung oder der Familie oder eine andere Situation, die gelöst werden muss, und für sie sind wir eine Hilfe. Diese Probleme müssen zuerst gelöst werden, bevor wir gemeinsam das Thema Arbeitsintegration angehen können.
Welche Rolle spielen soziale Medien für das Jobcenter oder interessierte Arbeitgeber? Ist es interessant für Sie, dort präsent zu sein?
Bierstedt: Wir organisieren Messen in verschiedenen Formaten, bei denen wir allen jungen Menschen Möglichkeiten anbieten. Im Januar haben wir die große Messe „Future at Work“ veranstaltet. Sie können es auf Instagram sehen. Mit diesem Format sind wir auch auf Facebook und anderen Netzwerken präsent. Aufgrund des genannten Erfolgs werden wir die Messe im nächsten Jahr wiederholen. Wir haben auch kleinere Formate, lokale Aktionen, die sich direkt auf Fachkräfte in einem bestimmten Bereich konzentrieren, wie zum Beispiel die Kampagne zur Suche nach Busfahrern hier in den Gemeinden von Münster.
Anderes Thema: Ist Deutschland auf die Einwanderung der benötigten Fachkräfte vorbereitet?
Bierstedt: Das ist ein vielschichtiges Thema. Ich würde sagen, wir sind zumindest technisch darauf vorbereitet. Darüber hinaus gibt es natürlich noch viele Baustellen. Angefangen bei der Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen über den Abbau von Bürokratie in den Behörden und ausreichend bezahlbarem Wohnraum bis hin einer Willkommenskultur, damit zugewanderte Menschen sich in Deutschland zurechtfinden und zuhause fühlen können.
Und was sagen Sie zu den sprachlichen und integrativen Schwierigkeiten, mit denen die, die hierherkommen, konfrontiert sind?
Bierstedt: Das Thema Sprache ist und wird immer ein Thema sein. Je besser die Sprache beherrscht wird, desto größer sind die Chancen.
Chancen für wen? Für die ausländische Arbeitskraft, oder eine Chance, damit zum Beispiel mehr Pflegebedürftige schnell versorgt und betreut werden?
Bierstedt: Eine Chance für die ausländischen Personen, die hierherkommen, natürlich. Es ist eine Chance, die Sprache zu lernen. Letztlich ist es in dem von Ihnen erwähnten Fall verständlich, denn wenn jemand ältere und vielleicht kranke Menschen in einem Pflegeheim betreut und mit ihnen kommunizieren muss, wäre es gut, wenn sie sich gegenseitig verstehen oder das Personal die gleiche Sprache spricht.
Viele sprechen über Sanktionen für Arbeitslose, über die Schwächen des Bürgergeldes, es wird ihnen gesagt, Arbeitslose würden zu viel Geld erhalten. Was ist dann mit dem Lohn für diejenigen, die arbeiten und trotzdem auf ergänzendes Bürgergeld angewiesen sind? Sind die aktuellen Löhne attraktiv?
Bierstedt: Ich denke ja. Zurzeit gibt es mehr Lohnerhöhungen. Diese werden nach den Tarifverhandlungen bekanntgegeben. So wird natürlich auch der Mindestlohn angepasst. Ob das die notwendigen Ausgaben deckt, kann ich nicht beurteilen. Natürlich befinden wir uns auch mitten in einer Krise. Denken Sie an die Energiekrise, bei der die Stromkosten exorbitant gestiegen sind. Auch hier in der Stadt haben wir sofort eine spezielle Hilfe für diejenigen bereitgestellt, die diese Rechnungen nicht bezahlen konnten, und zwar nicht nur für diejenigen, die SGB-II-Leistungen beziehen, sondern auch für diejenigen, die arbeiten und nicht genug Geld haben.
Dann lassen Sie mich die Frage stellen, die in den Medien oft gestellt wird: Lohnt es sich noch zu arbeiten?
Bierstedt: Natürlich, es lohnt sich immer zu arbeiten. Das Wichtigste ist, unabhängig von diesen Leistungen zu werden, und außerdem, wenn man arbeitet, schafft man ein gesundes soziales Umfeld. Man lernt neue Menschen kennen, nette Arbeitskollegen, mit denen man andere Interessen teilen kann. Es geht auch um soziale Integration. Arbeit bedeutet auch soziale Integration. Es gibt natürlich andere Menschen, die das nicht so sehen, und um die kümmern sich die Politiker, aber es ist nicht die Mehrheit, ich sehe das nicht so schlimm, als dass man sagen könnte, es sei besorgniserregend.
Ihrer Meinung nach scheint es nur wenige Leute zu geben, die denken, es sei besser Bürgergeld zu bekommen, als zu arbeiten. Aber was ist mit der öffentlichen Stigmatisierung der Empfänger von Leistungen des Jobcenters?
Bierstedt: Ich arbeite dafür, dass es keine Stigmatisierung von Bedürftigen mehr gibt. das ist meine Arbeit.
Inwiefern?
Bierstedt: Unser Credo, unser Motto hier ist: soziale Teilhabe durch Arbeit. Wenn ich sozial integriert bin, werde ich nicht zum Ziel eines Stigmas. Meine Mitarbeiter arbeiten jeden Tag unter diesem Motto. Wir versuchen, diese Menschen in eine würdige Arbeit zu bringen. Wir versuchen, diese Menschen zu qualifizieren. Wir versuchen, ihnen in ihren eigenen Miseren zu helfen, zum Beispiel bei der Wohnung, bei familiären Problemen oder bei Schwierigkeiten mit den Arbeitgebern, falls es welche gibt. Wir sind diesen Menschen sehr nahe. So versuchen wir, dieses Stigma zu beseitigen. der Rest der Gesellschaft sollte Menschen nicht stigmatisieren, weil sie Sozialleistungen beziehen.
Gibt es auch Stigmatisierungen gegenüber den Mitarbeitern des Jobcenters?
Bierstedt: Früher war es schlimmer. Heute ist es viel weniger geworden, weil das Jobcenter sein Image deutlich verbessert hat. Wir waren in Notsituationen da, wenn wir gebraucht wurden. Wir waren immer da, um zu helfen. Wir haben immer die Türen für diejenigen geöffnet, die es gebraucht haben, technische Mittel bereitgestellt, und die Menschen erhalten die Leistungen, die ihnen zustehen.
Wie kommt es dann dazu, dass viele Bürger die Empfänger von Sozial- oder anderen Leistungen mit Neid oder Groll betrachten?
Bierstedt: Ich kann Ihnen nicht sagen warum. Das wird es immer geben, egal, worüber man diskutiert. Es gibt viele reiche Menschen, ich glaube, 237 Millionäre in Deutschland. Deshalb gibt es auch Neid auf sie. Das Stigma gegenüber jemandem, der SGB-II-Leistungen bezieht, ohne diese Person oder ihre Situation zu kennen, ist auch ein Problem. Wahrscheinlich glauben einige Menschen, Bürgergeldempfänger ruhen sich auf den staatlichen Leistungen und damit auf der Arbeitsleistung anderer aus. Das mag es geben. Für den überwiegenden Teil der Leistungsberechtigten trifft das meines Erachtens nicht zu.
Zum Schluss: Mit welchen persönlichen Gefühlen verlassen Sie Ihr Amt Ende des Monats und in welchem Zustand übernimmt Ihre Nachfolgerin, Astrid Korschewski, das Jobcenter?
Bierstedt: Nun, ich gehe mit der Gewissheit, dass ich das Beste getan habe, um das Jobcenter und die Bedürftigen so gut wie möglich zu unterstützen. Das habe ich mein ganzes Leben lang getan. Es war meine Pflicht, diesen Menschen zu helfen. Ich glaube, dass ich ein gut strukturiertes Arbeitszentrum hinterlasse, was mir sehr wichtig war. Wir haben motivierte Kollegen und wir waren erfolgreich, mit anerkannt guten Ergebnissen sowohl auf lokaler, als auch auf Landesebene und sind beispielgebend auf nationaler Ebene.
Dennoch werden die Kollegen oder die Person, die diese Rolle übernimmt, sicherlich Schwierigkeiten haben, da sie in Zukunft mit einer viel komplizierteren finanziellen Situation konfrontiert sein werden. Es liegt ein großes Hindernis vor uns. Ich sehe mit einiger Besorgnis der finanziellen Entwicklung entgegen, die bevorsteht. Das Bundesbudget wurde für das nächste Jahr erheblich gekürzt und ich glaube, es wird viel schwieriger sein, alles zu erreichen, was wir bisher geschafft haben. Meine Nachfolgerin, Frau Korschewski, kommt aus dem eigenen Haus. Ich weiß, dass sie die Aufgabe mit viel Kompetenz angehen wird, dass sie die Fähigkeit besitzt, Entscheidungen zu treffen und die notwendige Entschlossenheit hat, die erforderlichen Maßnahmen umzusetzen. Sie verfügt außerdem über die richtige soziale Sensibilität, um das zu tun, was wir für die Menschen, die uns brauchen, tun müssen. Die Zusammenarbeit zwischen dem Stadtrat und den Kollegen ist ein wichtiges Zeichen dafür, dass wir auch weiterhin Fortschritte machen können.
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