Stecken wir in einem Fachkräftemangel oder ist das alles Quatsch?
Von Arnold Voskamp
Der deutschen Wirtschaft gehen jährlich 49 Milliarden Euro verloren, weil es nicht ausreichend Fachkräfte gibt, verlautete in diesem Mai aus dem Institut der deutschen Wirtschaft. Man mag dabei denken: Man weiß ja, wer diese Nachricht verkündet, immerhin kommt die Meldung aus dem Institut der deutschen Wirtschaft. Wer malochen geht, trägt immerhin einen Teil zu den Gewinnen bei. Die Gewinne aber sprudeln gut bei den großen Unternehmen.
Dennoch, es ist etwas dran. Es ändert sich etwas am deutschen Arbeitsmarkt. Einerseits: In Deutschland wurde noch nie so viel gearbeitet wie heute. Jahr für Jahr steigen die Zahlen der Beschäftigten und der geleisteten Arbeitsstunden, hat erst jüngst das Statistische Bundesamt festgestellt. Wo ist da der Fachkräftemangel? Andererseits: Aktuell gehen gerade die geburtenstarken Jahrgänge in die Rente, die „Babyboomer“, also diejenigen, die nach der Kriegslücke und vor dem Pillenknick der späten 1960er-Jahre geboren sind. Das sind viele, darauf muss die Gesellschaft sich einstellen.
Vollbeschäftigung oder Fachkräftemangel?
Jahrzehntelang war in der Republik Arbeitslosigkeit das bestimmende Thema. Davon redet heute niemand mehr. Es gibt sie aber noch, die Arbeitslosigkeit. Fünf Prozent davon haben wir aktuell in Münster, das gilt manchen schon als Vollbeschäftigung. Schauen wir etwa auf 1970 zurück, also vor über 50 Jahren, da hatten wir unter einem Prozent Arbeitslosigkeit. Das sollten wir nicht vergessen. Und insbesondere nicht die Menschen, die weiterhin aus dem Arbeitsleben ausgesondert sind.
Fünf Prozent in Münster, das sind 9200 Menschen. Für den genannten Bedarf an Fachkräften scheinen sie nicht die richtigen Arbeitskräfte zu sein, wegen fehlender Ausbildung, gesundheitlicher Defizite, familiärer Belastungen oder was immer die Gründe sind – dennoch sind sie ein großes Potential. Arbeitsförderung und berufliche Weiterbildung kann gegen Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel helfen. Doch der Finanzminister hat knappe Kassen und spart gerne bei den Arbeitsämtern.
Stimmungsmache
Über die nichts taugende nächste Generation klagten schon die alten Römer. Der Jammer über den Fachkräftemangel geht gerne und leicht in ein Lamentieren über die fehlende Bereitschaft zur Leistung über. Die jungen Leute wollten nicht mehr arbeiten, heißt es jetzt oft. Sie wüssten genau, was sie wollten, sie redeten über Work Life-Balance, also darüber, dass das Leben auch noch mehr Seiten hat als nur die Arbeit. Doch über die fehlende Arbeitsbereitschaft wurde schon geklagt, als von Fachkräftemangel noch keine Rede war, sondern von Massenarbeitslosigkeit.
Haben sie denn nicht recht, die wählerischen jungen Leute? Haben wir das Wort vom Burning-Out beiseite getan? Wegen Überarbeitung resignieren viele Arbeitskräfte in ihrem Job. Manche überschreiten ihre Grenzen und arbeiten sich krank, manche ziehen rechtzeitig die Reißleine und gehen in Teilzeit oder verabschieden sich ganz aus ihrem Beruf. Dazu erschien ebenfalls kürzlich eine Studie.
Fachkräfte in der Pflege
In der Pflege ist der Fachkräftemangel besonders groß. Das weiß jede*r, der pflegebedürftige Angehörige in einem Pflegeheim unterbringen möchte oder muss, oder keinen Platz im Krankenhaus findet. Manche Krankenhäuser müssen zeitweise oder dauernd Stationen schließen, weil Personal fehlt – auch die Uniklinik Münster. Es fehlt Personal und gleichzeitig gibt es viele Pflegekräfte, die ihre Arbeitszeit reduziert oder komplett das Handtuch geworfen haben. Ein wichtiger Grund: Die Arbeit ist nicht gut organisiert, zu viel Druck, zu wenig Anerkennung, zu wenig vereinbar mit der Familie. 25 Prozent der ausgebildeten Pflegekräfte scheiden in den ersten fünf Berufsjahren schon wieder aus ihrem Beruf aus.
Die Arbeitnehmerkammer Bremen hat zusammen mit dem Institut für Arbeit und Technik (IAT) Gelsenkirchen und der Arbeitskammer Saarland in einer Studie untersucht, was ausgeschiedene Pflegekräfte zur Rückkehr bewegen kann und wie Teilzeitkräfte ihre Arbeit ausweiten würden. Bei vorsichtiger Kalkulation könnten 300.000 Vollzeitstellen in der Pflege mit solchen Rückkehrer*innen besetzt werden. Optimistische Annahmen führen sogar zu einem Potential von zusätzlich 660.000 Pflegekräften.
Allein eine bessere Organisation würde die Situation in der Pflege drastisch entschärfen. Natürlich muss das zusätzliche Personal anständig bezahlt werden, Lob und Beifall von der Seite reichen nicht aus. Dass Überlastungen tatsächlich einen Aspekt des Fachkräftemangels darstellen, zeigt die bereits erwähnte Studie auf. Statt sich mit Kinkerlitzchen wie Homöopathie zu beschäftigen, könnte der Gesundheitsminister hier Wichtiges leisten. Unter https://www.arbeitnehmerkammer.de/studie-ich-pflege-wieder-wenn.html findet man diese sehr gut lesbare Studie.
Fachkräftemangel und Verhandlungsstärke der Gewerkschaften
Nach langen Jahren von Reallohnverlusten und schlechter Verhandlungsposition in Tarifverhandlungen hat sich der Fachkräftemangel positiv auf Arbeitskräfte und Gewerkschaften ausgewirkt. Die Eisenbahnerstreiks in diesem Frühjahr haben erfolgreich um Arbeitszeitverkürzung für Lokomotivführer*innen im Schichtbetrieb gestreikt. In der Krankenpflege konnte ein Entlastungstarifvertrag durchgesetzt werden, viele Kliniken müssen jetzt Überlastungen in der Pflege mit Freizeit ausgleichen oder aber mehr Lohn bezahlen. Eine bessere Organisation im Sinne der Beschäftigten ist weder Luxus noch Lifstyle, sie kommt auch der Gesundheit zugute.
Nach langen Jahren des Abschwungs steigen die Mitgliedszahlen von Ver.di und anderen Gewerkschaften wieder.
„Work-Life-Balance“
Überall werden Fachkräfte gesucht. Gleichzeitig gab es noch nie so viele Erwerbstätige in Deutschland wie heute. Was passiert da? Was machen die alle? Was für einen Wohlstand schaffen die? Wollen die nicht arbeiten?
Wenn so viele Menschen beruflich tätig sind, dann braucht es auch andere, die ihnen ein Essen zubereiten – denn dazu haben die Berufstätigen weniger Zeit. Oder um die Kinder zu betreuen: Wenn Vater sowieso arbeiten ist und die Mutter auch ran soll, da braucht es Erzieher*innen. Oder um unterstützungsbedürftigen Familienangehörigen zur Hand zu gehen, auch dort entsteht größerer Bedarf an Pflege- und Unterstützungsleistungen.
Da kommt die Frage nach der sogenannten Work-Life-Balance auf. Wie und wieviel wollen wir zukünftig arbeiten? Wie sieht unsere Zukunft aus? Immer mehr arbeiten? Oder besser mehr Zeit für die eigenen Kinder haben, öfter mal Spaß und Zeit, selber zu kochen? Die Fachkraft für das eigene Leben sein?
Fachkräftemangel bedeutet oft Wohnungsmangel
In Münster gab es noch nie so viele Beschäftigte. In der Stadt wohnen 319.000 Menschen. Von ihnen sind 170.000 beruflich tätig. In Münster arbeiten aber noch viel mehr, nämlich 236.000 Menschen: 109.000 Arbeitskräfte pendeln werktäglich von außerhalb ein, 43.000 Menschen aus Münster fahren gleichzeitig nach außerhalb zum Arbeiten. Münsters Bahnhof ist nicht nur Problemgebiet von heimatlosen oder gestrauchelten Menschen, am Bahnhof muss man zu Stoßzeiten aufpassen, dass man der Masse von Pendler*innen nicht unter die Füße gerät.
Viele Arbeitgeber*innen finden keine Beschäftigten, dann sprechen sie von Fachkräftemangel. Ein Grund dafür ist, dass viele Beschäftigte eine Wohnung in Münster kaum bezahlen können. Wenn eine Erzieherin oder ein Krankenpfleger nur weiter weg von Münster eine Wohnung findet, wird irgendwann die tägliche Fahrzeit zu lang oder der Fahrweg für sie zu weit. Dann aber wird auch ein Arbeitsplatz in einer Kita in Ostbevern oder im Krankenhaus von Coesfeld eine Stelle als Pfleger irgendwann attraktiv.
Früher gab es mal Eisenbahnerwohnungen oder Schwesternwohnheime in der Nähe von deren Arbeitsplätzen. Das halbe Ruhrgebiet bestand aus Werkswohnungen. Die sind inzwischen privatisiert, dem Markt zum Fraße vorgeworfen, die Mieten sind kaum mehr bezahlbar. Wenn die Stadt Flächennutzungspläne erstellt, geht es gern um Gewerbegebiete, weniger um Wohnungen, und wenn, dann werden sogenannte Investoren gesucht, auf Deutsch Miethaie. Vielleicht können Münsters Arbeitgeber*innen ihre Forderungen nach Gewerbeflächen auf solche für Werkswohnungen ausweiten? Werkswohnungen für Münster: Das wäre ein Leuchtturmprojekt, mit dem Münster ins Land leuchten könnte. Und auf diese Weise Fachkräfte anlocken oder halten.
Nicht nur Fachkräfte gesucht
Gesucht werden aber auch Arbeitskräfte ohne eine Fachausbildung. Beispielsweise Busfahrer*innen. Sie haben manchmal zwar eine Ausbildung, meist aber sind sie angelernt und keine Facharbeiter*innen. Sie führen zwar einen großen Bus, sind aber dadurch noch längst keine Führungskräfte. Sie haben nicht deren entspannte Arbeitszeiten und werden schon gar nicht wie solche bezahlt. Oder etwa Zimmermädchen und Houseboys im Hotel und Servicekräfte in der Gastronomie, Bereiche mit hoher Arbeitsbelastung und tendenziell schlechter Arbeitsorganisation und unattraktiven Arbeitszeiten.
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