Kinderrechte sollen Verfassungsrang bekommen
Von Annalaura Askanazy
Seit dem 12. Januar liegt ein Gesetzentwurf vor, der erstmalig Grundrechte für Kinder formuliert. Eine umfangreiche Diskussion ist entbrannt. Und es gibt einen handfesten Richtungsstreit: Sind die Interessen von Kindern ausreichend geschützt oder gibt es Defizite?
1968 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass auch „Kinder Menschenwürde besitzen und Inhaber des Rechts auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit sind“. Aber erst seit einer Gesetzesänderung aus dem Jahr 2000 haben Kinder ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.
Kritiker*innen der Grundgesetzänderung sind der Auffassung, dass die derzeitige Rechtslage die Belange von Kindern und Jugendlichen bereits hinreichend schütze. Sie befürchten, dass eine entsprechende Grundgesetzänderung die Fürsorgerechte von Eltern zu sehr beschneiden könnte.
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht tritt hingegen dafür ein, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Lambrechts Begründung: „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie sind besonders schutzbedürftig und haben besondere Bedürfnisse.“[1]
Zum Hintergrund auf internationaler Ebene: Im Jahr 1992 ratifizierte die Bundesrepublik Deutschland die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (KRK). Der völkerrechtliche Vertrag enthält Mindeststandards für den grundrechtlichen Schutz von Kindern. Die in der KRK enthaltenen und verbrieften Rechte sind unter anderem ein Diskriminierungsschutz (Art. 2 KRK), das Recht auf Leben und Entwicklung (Art. 6 KRK), der Kindeswohlvorrang (Art. 3 KRK) oder das Recht auf Gehör und Beteiligung (Art. 12 KRK). Der letzte Punkt ist insbesondere wichtig bei Anhörungen vor Familiengerichten.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich also bereits für eine bestimmte Richtung entschieden, aber wie sieht die Praxis tatsächlich aus? Ende 2019 veröffentlichte die National Coalition Deutschland (ein Zusammenschluss von 101 Verbänden zur Umsetzung der KRK) einen Bericht über die rechtliche Verankerung der Kernprinzipien der KRK in Deutschland. Laut ihrem Bericht beeinträchtigen insbesondere Armut, Bildungsdefizite und Diskriminierungserfahrungen die Lebenssituation und das Wohlbefinden von Kindern hierzulande. Auch nach der National Coalition lautet das Ergebnis: Eine konkrete verfassungsrechtliche Absicherung von Kinderrechten ist notwendig.
Foto: © Agneta Becker
Bewusstsein schaffen für mehr Schutz vor Willkür
Was fehlt, ist ein Bewusstsein für die Situation der Kinder. Ein Beispiel: Kinder dürfen sich häufig nicht direkt an den sie betreffenden Gerichtsverfahren, Gesetzgebungsprozessen oder Verwaltungsentscheidungen beteiligen, so Ekin Deligöz, Sprecherin für Kinder- und Familienpolitik der Grünen-Fraktion im Bundestag gegenüber dem Deutschlandfunk.[2] Wendet sich beispielsweise ein Kind an das Jugendamt, ist Letzteres verpflichtet, sich zunächst an die Eltern zu wenden. Trotz der Erkenntnis, dass Täter*innen überwiegend aus dem direkten Umfeld der Kinder kommen, wird die Familie also informiert, noch bevor Schutzmaßnahmen greifen können. Daraus schlussfolgern die Befürworter*innen einer Grundgesetzänderung, dass staatliche Maßnahmen die besonders schutzbedürftige Lage von Kindern nicht ausreichend beachten.
Eine Kindheit in sozialer Sicherheit sollte eigentlich selbstverständlich sein und ist Teil des Gewährleistungsgehalts der KRK. Aber in Deutschland steigt die Kinderarmut weiter an, obwohl seit mehreren Jahren die Arbeitslosigkeit sinkt.[3] Insbesondere alleinerziehend zu sein bedeutet in Deutschland ein hohes Armutsrisiko: Über ein Drittel aller Alleinerziehenden gelten als arm.[4]
Auf der einen Seite ist „Kinderarmut“ von „Erwachsenenarmut“ nicht zu trennen. Denn es leuchtet nicht ein, warum die Armut von Kindern und Jugendlichen ungleich mehr staatliche Fürsorge verdient. Damit geht die Wertung einher, dass Kinder „ja noch nichts für ihre Situation können“ (und Erwachsene im Umkehrschluss für ihre Armut die volle Verantwortung tragen). Dennoch hat Armut in der Kindheit Folgen: Das Maß an Sicherheit und Ressourcen verschiedener Art, die Menschen in ihrer Kindheit und Jugend erleben, ist ein entscheidender Faktor für spätere Ungleichheit.[5] Laut Norbert Müller, dem Vorsitzenden der Kinderkommission im Deutschen Bundestag, können Kinderrechte im Grundgesetz solche strukturellen Probleme nicht lösen, wohl aber einen allmählichen Bewusstseinswandel einleiten.
Foto: © Agneta Becker
Ist der Gesetzentwurf für mehr Kinderrechte nur ein Lippenbekenntnis oder bedeutet er einen wirklichen Wandel?
Seit dem 11. Januar 2021 liegt der Gesetzesentwurf vor.[6] Artikel 6 des Grundgesetzes soll wie folgt ergänzt werden: „Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt.“
Diese Formulierung ist nach Ansicht von Kritiker*innen teilweise zu weit gefasst und aus Sicht der Befürworter*innen ungenügend. Unbehagen bereitet vor allem die Vorstellung, der Staat könne sich durch die Gesetzesänderung stärker in die Erziehung einmischen und somit Rechtspositionen der Eltern schwächen. Kritiker*innen wie Abgeordnete der FDP und AfD befürchten eine besondere rechtliche Stärkung einzelner Personengruppen. Diese könne das Gleichgewicht des Grundgesetzes durcheinander bringen und andere Belange vernachlässigen.
Aus Sicht der oppositionellen Linken und Grünen handelt es sich bei dem jetzigen Entwurf lediglich um Symbolpolitik, dieser bleibe hinter den Standards der KRK zurück und enthalte keine konkreten Beteiligungsrechte.[7] Auch das bloß „angemessene“ Berücksichtigen von Kindeswohlbelangen genüge nicht den Vorgaben der KRK und bewirke keine spürbare Änderung der Rechtslage. Vorab wurde beispielsweise eine „vorrangige“ Beachtung der Interessen von Kindern gefordert.
Kinder haben sowohl im gesellschaftlichen Bewusstsein als auch in der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte einen langen Weg hinter sich gebracht: von bloßen „Regelungsobjekten der Erziehung von Eltern und Staat hin zu eigenen Rechtsinhabern“.[8] Die Grundgesetzänderung steht spätestens seit dem Koalitionsvertrag von CDU und SPD aus dem Jahr 2016 auf der politischen Agenda der Bundesregierung. Für eine Änderung der Verfassung bedarf es einer Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, weshalb Union und SPD auch Stimmen von der Opposition brauchen. Über den vorliegenden Gesetzentwurf soll offiziell noch vor der Bundestagswahl im September 2021 entschieden werden.[9]
[1] https://www.bmjv.de/SharedDocs/Zitate/DE/2021/0120_Kinderrechte_im_GG.html
[2] https://www.deutschlandfunk.de/kinderrechte-im-grundgesetz-das-zaehe-ringen-um.724.de.html?dram:article_id=488210
[3] Unicef in einer PM vom 22.11.2019, https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2019/zahlreiche-kinderrechte-in-deutschland-verletzt/202054
[4] Bertelsmann Stiftung, Stellungnahme im Landtag NRW 19.12.2019 https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Familie_und_Bildung/191219_Stellungnahme_Alleinerziehende_NRW_Landtag_NRW_09._Januar_2020_af_F.pdf
[5] Bspw. Laubstein/Holz/Seddig: Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche, Bertelsmann Stiftung 2016
[6]https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Kinderrechte_im_Grundgesetz.html?nn=6704238
[7] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/kritik-kinderrechte-101.html
[8] BVerfG, 01.04.2008 – 1 BvR 1620/04
[9] https://www.swr.de/swraktuell/kinderrechte-grundgesetz-groko-100.html
- Ubdate zu Kinderrechten im Grundgesetz - 14.06.2021
- Corona-Zuschlag nicht ausreichend - 19.04.2021
- Kinder an die Macht - 14.04.2021