Streit um die Tarifautonomie
Die Festlegung des Mindestlohnes ist Sache der Tarifpartner, nicht der Politik. Gilt dieser Standpunkt der Arbeitgeber auch in Zeiten hoher Inflationszahlen oder muss die Politik eingreifen? Und wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus?
Von Christoph Theligmann
DEUTSCHLAND
Der Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger lehnt Forderungen nach einem politischen Eingreifen für einen höheren Mindestlohn ab. „Populismus mit der Lohntüte führt nur zu einer noch höheren Inflation“, sagte Dulger der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Dieses Statement stammt von Anfang August. Grüne, Gewerkschaften und Sozialverbände hingegen fordern weiterhin einen deutlich höheren Mindestlohn.
Dulger argumentiert mit dem Schutz der Tarifautonomie. Die Höhe des Mindestlohnes müsse sich an der Tariflohnentwicklung orientieren. Der Mindestlohn dürfe nicht zum Spielball der Politik werden.
Grüne, Gewerkschaften und Sozialverbände wollen Reformen für einen höheren Mindestlohn. Die Präsidentin des Sozialverbands (VdK), Verena Bentele, sagte ebenfalls der dpa, die bisher beschlossene Anhebung des Mindestlohns um 41 Cent ab dem kommenden Jahr sei ein Hohn für Millionen Beschäftigte im Niedriglohnsektor. Sie könnten sich ihren Alltag kaum noch leisten. Der Mindestlohn müsse bei mindestens 14 Euro liegen, um die Menschen, die zu den untersten Einkommensgruppen gehören, spürbar zu entlasten. Und der Grünen-Sozialpolitiker Frank Bsirske erklärte, es müsse gesetzlich geregelt werden, dass der Mindestlohn auf 60 Prozent des mittleren Lohnes justiert werde, dieser bemisst sich am Gesamt-Einkommensgefüge. Damit schließt er sich Positionen europäischer Institutionen an (siehe unten).
Jeweils 41 Cent pro Stunde mehr im nächsten und übernächsten Jahr
Die deutsche Mindestlohnkommission hatte Ende Juni eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12,41 Euro ab dem 1. Januar 2024 beschlossen. Wer gesetzlichen Mindestlohn verdient, bekommt also eine Steigerung von genau 41 Cent pro Stunde. Das ist angesichts der Rekordinflation gelinde gesagt wenig. Denn die 41 Cent bedeuten eine Erhöhung um drei Prozent. Von der letzten Steigerung des Mindestlohns im Oktober 2022 bis Ende des Jahres dürften die Preise mehr als zehn Prozent steigen. Macht mindestens sieben Prozent weniger Kaufkraft für sechs Millionen Geringverdiener und ihre Familien. Es handelt sich um Menschen, die besonders viel von ihrem Einkommen für Grundbedürfnisse wie Energie und Essen ausgeben. Diese zu stillen, hat sich besonders verteuert. Diese Bürger*innen leiden also überproportional unter der Teuerungswelle. Und staatliche Entlastungen kompensieren die Belastungen nur teilweise.
Den Mindestlohn legt eine Kommission fest, in der Vertreter*innen von Arbeitgebern und Gewerkschaften sitzen. 2022 wich die Bundesregierung von deren Empfehlung ab und erhöhte die gesetzliche Lohnuntergrenze um satte 15 Prozent auf zwölf Euro. Das hatte Kanzler Olaf Scholz im Wahlkampf versprochen. Die Kommission hatte den Mindestlohn in der gesamten Zeit vorher kaum angehoben: In den ersten sieben Jahren seit der Einführung 2015 nur von 8,50 auf 9,60 Euro. Dabei wurden Preissteigerungen gar nicht berücksichtigt. Die gesetzliche Lohnuntergrenze stieg deutlich langsamer als die allgemeinen Gehälter.
Erhöhung auf 14 Euro als Inflationsausgleich in der Diskussion
Glich diese von Scholz initiierte Erhöhung die später folgende Inflation praktisch im Voraus aus? Kann man so sehen, muss man aber nicht. Denn diese holt ja nur auf, was die Jahre zuvor versäumt wurde. Die zwölf Euro der neuen Regierung waren ein Zeichen des Respekts für Millionen Beschäftigte, die oft körperlich hart und am Wochenende arbeiten. In der Gastronomie, im sozialen Bereich zum Beispiel.
Besonders oft profitierten Frauen und Ostdeutsche. Nun erleiden sie durch die jetzt beschlossenen Anhebungen um je 41 Cent in 2024 und 2025 herbe Verluste. Es hat den Anschein, dass die Arbeitgeberseite sich mit der aktuell geringfügigen Erhöhung revanchieren will, weil die Regierung die Kommission vergangenes Jahr überging. Sie konnten jetzt die Gewerkschaften in der Kommission überstimmen, weil sie die neutrale Gremiumschefin Christiane Schönefeld auf ihre Seite zogen. Sie saß früher im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit.
Die Bundesregierung sollte die Umsetzung einer Brüsseler Richtlinie nutzen, um Geringverdienenden zu geben, was diese verdienen. Der EU-Plan sieht vor, den Mindestlohn an die allgemeine Einkommensentwicklung zu binden und nicht unter 60 Prozent des mittleren Lohns sinken zu lassen. Das würde nächstes Jahr einen Mindestlohn bis zu 14 Euro pro Stunde bedeuten. Es ist übrigens nicht zu befürchten, dass so eine Anhebung Jobs vernichtet. Vor Einführung des Mindestlohns hatten marktliberale Ökonomen vorausgesagt, er werde mehr als eine Million Stellen kosten. Was sich als falsch erwies. Und inzwischen heißt das größte Problem nicht Arbeitslosigkeit, sondern Personalmangel.
Unternehmen suchen jetzt Mitarbeiter*innen, wobei sie nicht die Gehaltshöhe als Hauptkriterium ansehen wie unlängst die Arbeitgeber in der Kommission. Was die Funktionäre versäumen, da sollte die Regierung einspringen. SPD-Chef Lars Klingbeil spricht sich für bis zu 14 Euro Mindestlohn aus. Bundeskanzler Scholz erklärt zurückhaltender, er halte sich an das Votum der Kommission. Ein Mindestlohn von 14 Euro würde ihm wohl neuen Ärger mit der FDP einbrocken.
Die EU gibt einen verbindlichen Rahmen vor
Überall in Europa das Gleiche: Hohe Inflation macht vielen Menschen zu schaffen. Und vor allem jenen, die besonders wenig verdienen. Denn sie geben einen Großteil ihres Einkommens für Grundbedürfnisse wie Energie und Essen aus – deren Deckung sich besonders verteuert hat. Überall dort, wo es ihn gibt, wird der gesetzliche Mindestlohn zum Thema: Wie stark soll er steigen, damit es bei Geringverdienenden nicht finanziell eng wird?
Neue Dynamik in die Debatten bringt neben der Inflation wie gesagt eine neue Brüsseler Richtlinie zum Mindestlohn, die die EU-Staaten bis 2025 umsetzen müssen. Damit gibt es für die Niedriglohngrenze erstmals einen europäischen Rahmen.
Das Gesetz schreibt keine Mindestlöhne oder deren Höhe vor. Aber es empfiehlt, wie eine angemessene Lohnuntergrenze zu finden ist, die Unternehmen dann einhalten müssen. Ein Kriterium ist die Kaufkraft, also wieviel vom Geld nach Abzug der Inflation übrigbleibt. Das ist interessant, weil etwa Frankreich anders als Deutschland bereits gesetzlich vorschreibt, dass der Mindestlohn die Kaufkraft sichern soll. Außerdem verweist die EU auf „international übliche Referenzwerte“, wonach der Mindestlohn bei mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns aller Beschäftigten liegen soll. Wie machen es andere Staaten in Europa?
ITALIEN
Großes Diskussionsthema ist gerade die Abschaffung des Bürgergeldes! Zum Mindestlohn Folgendes: Nicht wie viel, sondern ob überhaupt ist die Frage beim Mindestlohn in Italien. Weil es in diesem großen Industrieland wie in nur wenigen Staaten in Europa bisher gar keinen Mindestlohn gibt.
Entsprechend kommt das Thema immer wieder auf, so auch in diesem Sommer. Die Schlachtordnung ist immer die gleiche: Die eher linken Parteien sind dafür, die rechten dagegen. Interessanterweise und im Unterschied zu Deutschland lehnen auch die Gewerkschaften mehrheitlich einen gesetzlichen Mindestlohn ab und verweisen auf von ihnen mitverhandelte Tarifverträge, die wertvoller seien, weil sie eben nicht nur das Geld, sondern auch die Arbeitsbedingungen insgesamt regeln.
Das Argument ist vernünftig, schaut man zurück nach Deutschland: Dort sitzen in der Tarifkommission nämlich keine Experten, sondern Tarifpartner. Nicht dieselben, aber immerhin die gleichen Leute wie bei Tarifverhandlungen. Was an dem einen Tisch nicht gelingt, soll am anderen Tisch gelingen?
In Italien gibt es ein großes Netz von Tarifregelungen, allerdings eines mit vielen Löchern. Mehrere Millionen Menschen stehen ohne den Schutz von Tarifregelungen da, und vor allem für jene wollen die oppositionellen Sozialdemokraten, neuerdings geführt von Elly Schlein, und die Fünf-Sterne-Bewegung unter der Führung des früheren Ministerpräsidenten Guiseppe Conte einen Mindestlohn von neun Euro einführen.
Der entsprechende Gesetzentwurf wurde von der Drei-Parteien-Rechtsregierung unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni im Parlament kategorisch abgelehnt. Die will entsprechend ihren Wahlversprechen lieber die Steuern senken, dann hätten alle mehr Geld in der Tasche und die Unternehmen den Spielraum, Löhne zu erhöhen, so ihre Begründung.
Aber es hat eine schlechte Tradition in Italien, dass dort, wo es geht, teilweise extrem geringe Löhne gezahlt werden, häufig übrigens schwarz und am Staat vorbei.
SPANIEN
In Spanien war im Sommer Wahlkampf und der Mindestlohn darin ein zentrales Thema. Dabei schienen sich erstaunlicherweise alle Parteien einig zu sein, dass er weiter angehoben werden müsse. Zumindest versprach das nicht nur der jetzt geschäftsführende (Stand August 2023) sozialistische Ministerpräsident Pedro SaÏnchez, sondern auch sein konservativer Herausforderer Alberto NuÏnfiez FeijoÏo.
Das spanische Beispiel sei an dieser Stelle erwähnt, weil am Thema Mindestlohn gezeigt werden kann, dass bei wichtigen und zugleich strittigen Themen Regierung und Opposition durchaus an einem Strang ziehen können.
SCHWEDEN UND DÄNEMARK
In Europas Norden ist ein gesetzlicher Mindestlohn nicht vorgesehen. In Schweden und auch in Dänemark sind sich Gewerkschaften und Arbeitgeber nämlich in dem Punkt einig, dass der Gesetzgeber, sprich die Regierung, sich aus der Lohnbildung raushalten soll. in Schweden einigten sich Tarifparteien und Regierung bereits 1938 auf diesen Grundsatz, der auch manchmal „Schwedisches Modell“ genannt wird. Löhne werden ausschließlich zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelt und in Tarifverträgen festgelegt.
„Mindestlöhne“ heißen in diesen Vertragswerken dann „Einstiegsgehälter“, sind je nach Branche unterschiedlich und oft auch nach Alter gestaffelt. Das System funktioniert dank starker Gewerkschaften, gut 90 Prozent der schwedischen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen werden nach Tarif bezahlt, eine hohe Quote, die seit Jahrzehnten stabil ist. Ähnlich sieht es in Dänemark aus. Im Rest Europas sind die Anteile viel niedriger. Weil viel mehr Beschäftigte nach Tarif bezahlt werden als sonst in Europa, halten die beiden Staaten den Mindestlohn einfach nicht für notwendig. Die im Herbst beschlossene EU-Richtlinie lehnen beide Länder ab, auch auf Drängen der Gewerkschaften.
GROSSBRITANNIEN
In Großbritannien wird der gesetzliche Mindestlohn jedes Jahr zum 1. April neu berechnet. Derzeit liegt er für Menschen über 23 Jahren bei 10,42 Pfund pro Arbeitsstunde, was umgerechnet 12,19 Euro entspricht. Wer jünger ist, bekommt weniger.
Die Höhe des jeweiligen Mindestlohns bestimmt die Regierung; sie stützt sich dabei auf die Empfehlung einer Kommission von Arbeitsmarktexperten. Die Kommission ist unabhängig und berücksichtigt bei ihrer Berechnung vor allem die Lebenshaltungskosten sowie die allgemeine wirtschaftliche Lage. Im April dieses Jahres wurde der Mindestlohn zuletzt um fast zehn Prozent angehoben, um die hohe Inflation auszugleichen. Der Mindestlohn gilt grundsätzlich in allen Landesteilen des Vereinigten Königreichs.
Da das Leben in London aber sehr viel teurer ist als anderswo in Großbritannien, gibt es eine spezielle Mindestlohnempfehlung für die Hauptstadt. Statt nur den gesetzlich vorgeschriebenen Satz von 10,42 Pfund zu zahlen, wird an Unternehmen im Großraum London appelliert, ihn auf 11,95 Pfund pro Arbeitsstunde zu erhöhen.
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