Die Störung provinzieller Ordnung
Während anderswo der Krieg zu Ende ging, Matrosen und Soldaten meuterten, Arbeiterinnen und Arbeiter massenhaft streikten und die Republik ausgerufen wurde, blieb man in Münster größtenteils skeptisch. Dennoch hielt die Novemberrevolution vor 100 Jahren auch in die tiefschwarze Westfalenmetropole Einzug.
„Das Fabrikwesen hat in unserer Behörden- und Beamtenstadt so wenig Bedeutung, dass wir bei der geringen Anzahl derartiger Anlagen von der in Deutschland immer bedrohlicher werdenden sogenannten Arbeiterbewegung bislang wenig oder gar keine Anzeichen verspüren.“ Dieser Eintrag des Stadtarchivars Adolf Hechelmann in der Stadtchronik im Jahr 1870 steht symptomatisch für die politische Demographie Münsters im Kaiserreich.
Schon damals war die Provinzhauptstadt der preußischen Provinz Westfalen vor allem politischer und militärischer Verwaltungssitz. Industrie, die über das Ausmaß mittelständischer Handwerksbetriebe hinausging, gab es kaum.
Dazu kam die heute gern belächelte Religiosität Münsters. Der Kulturkampf, der Konflikt des preußisch dominierten Kaiserreichs mit der katholischen Kirche, hatte in der Bistumsstadt besonders heftig getobt. Die mit Abstand stärkste politische Kraft war dementsprechend die Zentrumspartei, das Sprachrohr des politischen Katholizismus im Kaiserreich und der Weimarer Republik.
Sozialdemokratie zwischen Repression und politischer Ohnmacht
Die SPD brachte es, weit abgeschlagen, immerhin auf Platz zwei. Seit den 1870ern hatte es immer wieder kleinere, der Sozialdemokratie nahestehende Vereine gegeben, welche größtenteils wegen der von 1878 bis 1890 gültigen Sozialistengesetze unter dem Deckmantel unpolitischer Aktivitäten arbeiten mussten. Häufig standen diese Vereine unter polizeilicher Überwachung, wurden aufgelöst oder hatten andere Repressalien zu fürchten. So empfahl die münsteraner Stadtverwaltung 1878 lokalen Arbeitgebern, Mitglieder des sozialdemokratischer Umtriebe verdächtigten Lesevereins „Unitas“ zu entlassen. Darüber hinaus waren die Mitglieder solcher Vereine selten Einheimische, sondern häufig zugereiste Bauhandwerker. Die erste offizielle SPD-Versammlung fand im November 1896 statt, die örtliche Parteiorganisation blieb jedoch klein.
Auch der Einfluss der sozialistisch geprägten Freien Gewerkschaften war gering, viele Arbeiter und Handwerker waren eher in den christlichen Gewerkschaften organisiert.
Erster Weltkrieg und das Ende der Monarchie
Im Sommer 1914 brach der I. Weltkrieg über Europa und die Welt herein. Die Menschheit schlachtete sich in bisher unbekanntem Ausmaß gegenseitig ab. Auch aus der Garnisonsstadt Münster waren die „Dreizehner“, das 13. Infanterieregiment, begleitet vom Jubel der Bevölkerung, an die Westfront gezogen.
Nach vier Jahren war von Glanz und Gloria sowie der einstigen Kriegsbegeisterung wenig übrig geblieben. Millionen Menschen wurden getötet, verstümmelt, erlitten schwere körperliche wie psychische Verletzungen. In Deutschland hungerte die Zivilbevölkerung, und die Spanische Grippe forderte Millionen weiterer Leben. Militärisch lag die deutsche Armee in den letzten Zügen, dennoch kam es zu sinnlosen Durchhaltebefehlen mit zahllosen Opfern.
Große Teile der Soldaten und der Bevölkerung hatten jedoch genug. Was am 3. November 2018 als lokale Meuterei Kieler Matrosen begann, entwickelte sich innerhalb weniger Tage im ganzen Reich zu einer Revolution. Bereits am 9. November rief Phillip Scheidemann in der Reichshauptstadt Berlin die Republik aus, wenige Tage später dankten Kaiser und weitere Reichsfürsten ab. Das Deutsche Reich hatte aufgehört zu existieren.
Angst vor den Wirren der Revolution
Nicht überall wurden diese Entwicklungen positiv aufgenommen. Auch in Münster blieben viele Menschen skeptisch gegenüber der neuen Ordnung. Bereits am 27. Oktober hatte Münsters Oberbürgermeister Franz Dieckmann – als Reaktion auf die Forderung der Alliierten nach der Abdankung des Kaisers im Rahmen von Waffenstillstandsverhandlungen – unter dem Beifall von weit über tausend Zuhörern zur Treue zu Kaiser und Monarchie aufgerufen.
Als die Aufstände unter den Soldaten zunahmen, wurde man im Generalkommando des VII. Armeekorps in Münster nervös. Der kommandierende General Egon Freiherr von Gayl ließ die Sicherheitsmaßnahmen in der Stadt verschärfen, Wachposten und Patrouillen wurden verstärkt, wobei darauf geachtet wurde, dass diese von zuverlässigen Offizieren kommandiert wurden. Mehr noch als vor einem Aufstand der Stadtbevölkerung fürchtete man sich vor einem Angriff revolutionärer Kräfte von außen. Man erwog sogar, die Bahnverbindung nach Osnabrück zu kappen.
Am 7. November warnte Oberbürgermeister Dieckmann die Bevölkerung vor der Teilnahme an Versammlungen und Ruhestörungen. Am Abend desselben Tages ließ er selbst eine Versammlung der Vertreter der politischen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Wirtschaftsverbänden einberufen. Eindringlich bat er die Anwesenden, Münster vor „russischen Zuständen“ zu bewahren und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrecht zu erhalten.
Hierbei wurde er zunächst auch von den anwesenden Vertretern der politischen Linken unterstützt: Emmerich Düren sprach für die SPD, Max Duhme vertrat die Freien Gewerkschaften. Nicht, dass sie größeres revolutionäres Potential zur Verfügung gehabt hätten: Die SPD hatte in Münster zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als 20 bis 30 Mitglieder, die Freien Gewerkschaften waren durch die Einberufung ihrer Mitglieder in die Armee und interne Streitigkeiten während des Krieges stark geschwächt, auch wenn die Zahl der Mitglieder in den Monaten nach Kriegsende drastisch auf zirka 3000 Mitglieder anstieg. Mehr Einfluss hatten die Christlichen Gewerkschaften, welche im Sommer 1919 über rund 7000 Mitglieder in Münster und Umgebung verfügten, die die Abschaffung der Monarchie jedoch mehrheitlich ablehnten. Wenn es in der Stadt selbst umstürzlerisches Potential gab, so kam dies von den zahlreichen, in der Stadt stationierten Soldaten, welche zum Teil den Schrecken der Schützengräben selbst erlebt hatten.
Die Revolution kommt nach Münster
Am Tag nach Diekmanns Aufruf waren viele Bürger*innen verängstigt. Nur wenige trauten sich auf die Straße, Militär patrouillierte durch die Straßen. Das Oberkommando der Armee hatte den Befehl herausgegeben, mit revolutionären Kräften zu verhandeln, ein Befehl, der General von Gayl zum Kochen brachte: „Mit Meuterern und Verrätern verhandeln? Geschossen wird auf die Verräter! (…) Sind Sie Soldat, dann sollten Sie das Blut von Verrätern nicht schonen.“
Befehl war allerdings Befehl, und als am Abend tatsächlich in Münster stationierte Soldaten auf die Straße gingen und für die Revolution demonstrierten, blieb der Schießbefehl aus.
Auf einmal wurde das konservative Münster von der Revolution überrollt: Die demonstrierenden Soldaten empfingen eine Abordnung des Kieler Arbeiter- und Soldatenrates, aus dem Gefängnis und Militärarrest wurden Gefangene befreit. Es kam zu Befehlsverweigerungen und Respektlosigkeiten gegenüber Offizieren, manchen wurden ihre schwarz-weiß-roten Kokarden von der Uniform gerissen. Am Rathaus wurde, an der Stange, die traditionsgemäß das Sendschwert trägt, eine rote Fahne befestigt.
Am 9. November 2018 schließlich übernahm ein kurzfristig zusammengestellter Arbeiter- und Soldatenrat das Kommando in Münster. Emmerich Düren und Max Duhme vertraten SPD und Freie Gewerkschaften, auch die christlichen Gewerkschaften waren mit zwei Mitgliedern vertreten. Die Soldatenschaft schickte vier Delegierte. Man einigte sich auf Maßnahmen, um Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten.
Dies beinhaltete allerdings auch die Sanktionierung von Gewalt, um die bisherigen Erfolge der Revolution zu verteidigen. Ebenso forderten Düren und Duhme, dass die SPD die Mehrheit im Rat bekommen sollte, obwohl sie doch in der Stadt nur wenige Anhänger hatte. Diese Gründe führten dazu, dass die beiden christlichen Gewerkschafter Camps und Müller bereits einen Tag nach Gründung des Rates wieder austraten. Das machte den Rat zwar politisch homogener, allerdings verfügte die überwältigende Mehrheit der Münsteraner Bürgerschaft über keine Repräsentation mehr.
Das Monasterium schlägt zurück
Daraufhin gründete die konservative Mehrheit der Stadt auf Initiative von Oberbürgermeister Diekmann am 22. November einen Bürgerrat. Dieser bestand aus 31 Mitgliedern verschiedenster bürgerlicher Gruppierungen. Die offizielle Autorität lag zwar nach wie vor beim Arbeiter- und Soldatenrat, der Bürgerrat bildete allerdings einen wichtigen Gegenpol innerhalb der Stadt.
Als am 8. Dezember das 13. Infanterieregiment von der Front nach Münster zurückkehrte, bereiteten die meisten Bürger*innen den Soldaten einen begeisternden Empfang. Man schwang die alte Reichsflagge, die neue schwarz-rot-goldene Flagge der Republik suchte man auf den Straßen vergebens. Erste Versionen der „Dolchstoßlegende“ machten die Runde, in vielen konservativen Kreisen war man sich sicher, dass die inneren Revolutionäre die militärische Niederlage herbeigeführt hätten. Die harten, von den alliierten gestellten Friedensbedingungen verstärkten die Ressentiments gegenüber der Sozialdemokratie und anderen revolutionären Kräften noch. Es kam zu Konflikten zwischen heimgekehrten Soldaten und dem vom Arbeiter- und Soldatenrat aufgestellten Sicherheitsdienst, bis schließlich auf Initiative Diekmanns der bereits vorher umstrittene Sicherheitsdienst aufgelöst und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit in die Hände des Militärs gelegt wurde.
Vor dieser explosiven Mischung fanden in ganz Deutschland im Frühjahr 1919 die ersten Wahlen der Weimarer Republik statt. Mehr dazu in der nächsten SPERRE.
- Münster in der Novemberrevolution von 1918/1919 – Teil II - 8.06.2020
- Münster in der Novemberrevolution von 1918/1919 – Teil I - 30.01.2020
- Lebensraum als Ware - 13.12.2019