Der Philosoph Saito befreit Marx vom Marxismus
Eine Buchbesprechung von Werner Szybalski
Überraschend hielt sich „Systemsturz“ über Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste – ein Buch des japanischen Philosophieprofessors Kohei Saito. Er hat in Berlin studiert und dort sein Interesse an den Arbeiten von Karl Marx entdeckt. Saito beschäftigt sich insbesondere mit Notizen und Entwürfen des späten Karl Marx, die bislang nicht oder nur teilweise veröffentlicht wurden.
Dabei befreit er Karl Marx – zumindest dessen Spätwerk – vom traditionellen Marxismus. Saitos Forschungstätigkeit ist derart relevant, dass er in den Herausgeberkreis von MEGA, der „Marx-Engels-Gesamtausgabe“, berufen wurde.
Schon 2016 veröffentlichte Kohei Saito seine Studie „Natur gegen Kapital“ mit dem Untertitel „Marx‘ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus“ (Campus-Verlag, 328 Seiten, 39,95 Euro, ISBN 978-3-593-50547-3), in der er aufzeigte, dass Karl Marx durch Studien von Justus von Liebig und anderen Naturwissenschaftlern die Verletzlichkeit der Natur erkannte.
„Es wird immer klarer, dass der Kapitalismus sein Fortschrittsversprechen nicht einlösen kann“, sagte Saito im Oktober dem österreichischen Magazin „Tagebuch“, weshalb Marx und seine Kritik wieder auf die Tagesordnung gehörten. Allerdings, so Saito, „aus einer neuen Perspektive, einerseits aus der der Ökologie und andererseits aus der des Degrowth.“ [= Verringerung von Konsum und Produktion]
Vier Zukunftsperspektiven ohne Kapitalismus
In seinem Buch „Systemumsturz“ zeigt der Autor nun auf, dass es in der akuten ökologischen Krise nur vier Perspektiven für die zukünftige Gesellschaft gebe – allesamt ohne Kapitalismus. Die Möglichkeiten einer klimagerechten Zukunft beschreibt Kohei Saito anhand der Kategorien „Autorität“ und „Gleichheit“ (siehe Grafik aus dem Buch von Saito). Mit autoritärer Regierungsform gäbe es bei großer Ungleichheit den „Klima-Faschismus“ beziehungsweise bei besonders geringer Ungleichheit den „Klima-Maoismus“. Bei schwacher Autorität in der Gesellschaft und hoher Ungleichheit entstünde „Barbarei“. Nähert sich die Gesellschaft der Gleichheit an, was Saito ebenso bevorzugt wie die schwache Autorität, und damit eine demokratische Gesellschaft, dann bliebe als Lösung für alle Zukunftsfragen nur der „Degrowth-Kommunismus“.
Saito grenzt seine Vorstellung des egalitären und nachhaltigen „Degrowth-Kommunismus“ allerdings sowohl von den aktuellen Degrowth-Debatten ab, die den Kapitalismus bei individuellem Verzicht und unter verstärktem Einsatz moderner, umweltschonender Techniken (sogenannter „Grüner Kapitalismus“) für reformierbar halten, als auch vom bürokratischen Kommunismus, wie er in der Sowjetunion bestand oder derzeit mit kapitalistischem Wirtschaftssystem in China proklamiert wird. Dies begründet er mit den Forschungen des „alten Marx“, der sich nach Auffassung von Saito von seinen früheren Überlegungen (und Veröffentlichungen) wie dem „Produktivismus“ (bestehend aus Wirtschaftswachstum, Marktwirtschaft und Freihandel) oder dem „eurozentristischen Geschichtsbild“ abgewendet habe.
Die zum Produktivismus gehörende Theorie, dass der Weg zum Sozialismus zwingend über eine zuvor kapitalistische Gesellschaft führe, habe Marx 1881 im Brief an die Russin Vera Sassulitsch ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt, schreibt Saito: Marx habe dabei insbesondere an die russischen Dorfgemeinschaften („Mir“) gedacht, die sich unter anderem durch periodisch neu unter den Dorfbewohner*innen verteilten Grund und Boden auszeichneten.
Marx bekennt sich zum Antikolonialismus
Besonders betont der Autor, dass sich Karl Marx ab zirka 1850 klar zum Antikolonialismus bekannt habe. Der heute noch anhaltende Zustand, dass der Kapitalismus sich nur reproduzieren kann, weil er die benötigten natürlichen Ressourcen mehrheitlich aus den Ländern des globalen Südens bezieht und zugleich die Kosten seiner Produktion zum Beispiel in Form von Abfällen dorthin auslagert. Die Beendigung dieser Ausbeutung sei zentral für die Beendigung der kapitalistischen Reproduktion, so Saito. Im globalen Süden befänden sich zudem auch heute noch die vorkapitalistischen, also indigenen Gemeinschaften, von deren Umgang mit der Natur die Menschen im Norden viel lernen könnten.
Seit 1868 habe Marx nicht nur über Naturwissenschaften, sondern auch über Kommunen geforscht. Beide Forschungsgebiete stünden in engem Zusammenhang. Marx sei zu der Erkenntnis gelangt, dass entscheidend für einen nachhaltigen Umgang mit der Natur das Gemeineigentum an Produktionsmitteln und deren gemeinschaftliche Verwaltung sei. Nur so könne ausgeschlossen werden, dass sich private Interessen durchsetzten und Mitglieder der Gemeinschaft ausgeschlossen und enteignet würden, so eine der Analysen in dem lesenswerten Buch von Kohei Saito.
Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Aus dem Japanischen von Gregor Wakounig. München: dtv, 2023. 320 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-423-28369-4.
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