Haben Sie auch den Aufschrei in den Medien gehört, als Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles so ganz nebenbei die von der großen Koalition vereinbarte Lebensleistungsrente fallen ließ? Also die Rente, die gezahlt werden soll, wenn nach einem langen Arbeitsleben das Geld im Alter nicht ausreicht. Nein? Kein Wunder, diesen Aufschrei gab es auch gar nicht. Wenn es um Altersarmut geht, ist in unserer Qualitätspresse Vernebeln und Beschwichtigen die Parole.
Von Norbert Attermeyer
Eine ungewöhnliche Ausnahme gab es im Vorjahr an Heiligabend. Da berichtete die Tagesschau passend zum Weihnachtfest, dass jede*r Zweite heute so wenig verdiene, dass im Alter mit einer Rente unterhalb der Grundsicherung gerechnet werden müsse. Jede*r Zweite, wohlgemerkt.
Auch die OECD, die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, hat Deutschland in der Vergangenheit wiederholt angemahnt, endlich etwas gegen diese bedenkliche, auf uns zurollende Entwicklung zu unternehmen. Allein, es geschieht nichts. Jens Spahn, CDU-Bundespolitiker aus dem Münsterland und Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, erklärte jüngst im Morgenmagazin, dass er erst einen Handlungsbedarf in 40 Jahren sehe. Dabei ist das Problem jetzt schon sichtbar. Bereits in den letzten elf Jahren hat sich die Anzahl der Bezieher*innen von Grundsicherung im Alter verdoppelt. Die Zahl der erwerbsgeminderten Rentner*innen stieg gar um 170 Prozent. 3,5 Millionen Menschen beziehen heute in Deutschland eine Rente an der von der EU definierten Armutsgefährdungsschwelle.
Drastische Zahlen schon heute, für eine Problematik, die angeblich erst in vier Jahrzehnten relevant wird? Tatsache ist, das Thema Altersarmut droht in Zukunft den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden. Und es muss heute gehandelt werden. Die althergebrachte Rente funktioniert heute so nicht mehr.
Eines der Hauptprobleme dabei: Unser Rentensystem geht von einem Erwerbsleben aus, welches heute immer weniger die Regel ist – die durchgängige Vollzeitbeschäftigung nämlich. Die Rente bemisst sich nicht in erster Linie an dem Nettogehalt, sondern nach sogenannten Rentenpunkten. Aktuell gibt es einen Rentenpunkt bei einem Jahresverdienst von 37.105 Euro brutto. Dabei ist heute das befristete und oft teilzeitbasierte Erwerbsleben schon eher die Regel geworden. Oft genug verbunden mit beruflichen Umbrüchen (Stichwort: lebenslanges Lernen) und unterbrochen mit Zeiten der Arbeitslosigkeit. Zu den veränderten Erwerbsbiographien kommen zusätzliche Belastungen für die gesetzliche Rente: etwa die sogenannten beitragsfremden Leistungen. Dazu zählen beispielsweise die zusätzlichen Rentenansprüche aufgrund der Wiedervereinigung. Da der damalige Kanzler Helmut Kohl Anfang der 1990iger-Jahre eine Steuererhöhung aufgrund der Wiedervereinigung ausschloss, mussten die Beitragszahler ran. Dabei wäre es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe gewesen, vom Millionär bis zum Beamten, für die neuen Renten aufzukommen. Aber der Griff in die Kasse der Beitragszahler war da einfach bequemer. Tut ja auch erst mal nicht so weh. Hauptsache keine Steuererhöhung. Mit einem Zuschuss zur Rentenversicherung versucht der Bund zwar den verursachten Schaden auszugleichen. Doch dieser Zuschuss fällt in der Regel deutlich geringer aus als die bestellten Mehrausgaben.
Zu guter Letzt musste unser Rentensystem die Einführung von Hartz IV verkraften, das bekannteste und umstrittenste Element der Agenda 2010. Am 28. Januar 2005 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos lobte Ex-Kanzler Gerhard Schröder sich noch selbst damit: „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt… Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlungen Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt.“ Mittlerweile arbeiten zwischen sieben und acht Millionen Menschen im Niedriglohnbereich. Tendenz steigend. Aber Niedriglohn ist Rentenhohn. Und wenn diese Menschen ins Rentenalter kommen, werden sie eine ganz außergewöhnliche sozialpolitische Sprengkraft entwickeln. Spätestens dann dürfte ernsthaft bezweifelt werden, dass die Bundesrepublik noch ein sozialer Bundesstaat ist, so wie Artikel 20 des Grundgesetzes es vorschreibt.
Privat ist besser als Staat?
Zudem wurde die Rente zu jener Zeit einer rosskurgleichen Privatisierung unterzogen. Riester-Rente, Rürup-Rente und die Absenkung des Rentenniveaus wurden gesetzlich eingeführt. Der Hintergrund: Aufgrund des demographischen Wandels – weniger Beitragszahler mehr Rentner spätestens in 50 Jahren – wurde die Rente als so nicht mehr finanzierbar eingestuft. Die Lösung: die umlagefinanzierte Rente wird teilweise privatisiert. Weil, so dachte man damals, Privat sei immer besser als der Staat. Und damit dies auch so funktioniert, wurde durch Absenkung des Rentenniveaus der Druck für eine private zusätzliche Vorsorge erhöht.
Und diese private Vorsorge ließ der Staat sich auch etwas kosten. Für den/die Arbeitnehmer*in zumindest in der Theorie. Für den Versicherer auf jeden Fall in der Praxis. Verbraucherorganisationen haben wiederholt kritisiert, dass der wesentliche Teil der staatlichen Zuschüsse bei den privaten Versicherern landet und nicht bei den Versicherten. Die Männerfreundschaft von Gerhard Schröder und Carsten Maschmeyer (ehemaliger Entwickler und Chef der AWD-Versicherungen) wurden in diesem Zusammenhang schon oft angeführt. Maschmeyer hat sich an der Finanzierung von Schröders Wahlkampf beteiligt („Ein Niedersachse muss Kanzler werden“) und die spätere Einführung der Riesterrente machte die Beziehung zu Schröder zu einer regelrechten Win-Win-Situation. Laut Stern hat Carsten Maschmeyer, als er noch die AWD führte, zwei Millionen Euro für die Rechte an Schröders Autobiographie überwiesen. Dies aber nur am Rande. Die Zeche zahlen die Menschen, die in ihren Billigjobs keinen Cent für die zusätzliche Altersvorsorge erübrigen können. Am Ende bleibt nur noch der Weg in die Grundsicherung.
Es geht auch anders
Dabei war diese Entwicklung gar nicht nötig. Das Beispiel Österreich zeigt, dass es auch anders geht. In Österreich liegt die Durchschnittsrente um 800 Euro höher als in Deutschland. Und – die Rentenzahlung findet 14-mal im Jahr statt. Weihnachten und der Sommerurlaub wollen berücksichtigt werden. Kritiker sagen aber, dass dafür die Arbeitnehmer in Österreich tiefer in die eigene Tasche greifen müssten. Das stimmt und stimmt doch nicht. Denn die Beiträge zur Rentenversicherung in Österreich liegen gerade einmal um 0,9 Prozent über dem Niveau in Deutschland.
Nun werden sich viele fragen, wie haben die Österreicher das gemacht? Die haben doch auch den sogenannten demografischen Wandel. Die haben doch auch bei der Rente das alte Umlagesystem. In Österreich zahlen doch auch die heutigen Arbeitnehmer für die heutigen Rentner. Die verblüffende Antwort lautet: Eigentlich haben sie gar nichts gemacht. Österreich hat aber anders als Deutschland das Umlagesystem gestärkt, statt es abzubauen und für die Privatisierung zu öffnen. Konkret zahlen in Österreich jetzt alle in die gesetzliche Rente ein. Auch Beamte und Selbständige. Auch Millionäre. Und man kam glücklicherweise nicht auf die aus heutiger Sicht regelrechte Schnapsidee, die Rente den privaten Versicherern anzudienen. Kein Riester, kein Rürup. Denn, bei allem Verständnis für den freien Markt: Private Versicherer sind keine Wohlfahrtsunternehmen. Die Vorstandsgehälter wollen bezahlt werden und die Versicherungspaläste wollen unterhalten werden. Kurzum, Private wollen Gewinne machen. Dass die Privatisierung letztlich oft teurer und ineffektiver ist, hat der Bundesrechnungshof ein ums andere Mal nachgewiesen. So sind die Ausgaben nur für die Verwaltung bei den Privaten bis zu dreimal höher als bei der staatlichen Rentenversicherung. Allein, es kommt an der entscheidenden Stelle, im Bundestag nämlich, nicht an. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Abgeordneten des Bundestags in der Regel gar nicht dem gesetzlichen Rentensystem angehören. Eine gewisse Ferne zum System und zum Problem ist wohl auch nötig, um weiterhin die schon längst gescheiterte Privatisierung der Rente voranzutreiben. Die im Juni beschlossene Reform der Betriebsrente ist dafür ein gutes Beispiel.
Nicht nur in Österreich
Das alte Rentenumlagesystem hat zwei Weltkriege überlebt. Die neoliberale Politik der letzten zwanzig Jahre haben ihm aber arg zugesetzt. Dabei ist es nicht nur der Blick nach Österreich, der zeigt, dass es auch deutlich besser geht. So haben Wissenschaftler der OECD die zukünftig zu erwartenden Nettorenten mit den Nettolöhnen verglichen und so eine „Nettoersatzquote“ entwickelt. Diese Zahlen sind bemerkenswert. Die Nettoersatzquote für Österreich beträgt sagenhafte 91,6 Prozent. Im Durchschnitt der EU-Staaten sind es immerhin noch 70,9 Prozent. Nur für Deutschland beträgt sie gerade einmal 50,0 Prozent. Ausgerechnet das wirtschaftlich stärkste Land innerhalb der EU, das sich doch so viel auf seinen Sozialstaat einbildet, geht gerade zu schäbig mit seinen Rentnerinnen und Rentnern um.
Aber uns geht‘s ja noch gut, sagt die Regierung. Sagen Sie Ihren Abgeordneten doch mal: Wir wissen, dass Deine Rente sicher ist. Das ist ja auch gut so. Aber jetzt tue auch mal was für unsere Rente!
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