Der persönliche Bericht einer Kunstnomadin von einer Sommertour zur Ausstellung Skulptur Projekte Münster 2017
Von Angelika Schirmer
Am schönsten ist es, einer Skulptur zufällig zu begegnen, ihr sozusagen im städtischen Alltag über den Weg zu laufen. Die kennzeichnende Behauptung, dies oder das sei Kunst, hat ja immer etwas Auftrumpfendes an sich, kommt sozusagen „von oben“, so dass ich nicht nur mit dem ungewohnten Gegenstand oder der Aktion konfrontiert bin, sondern auch mit denjenigen, die die Behauptung aufgestellt haben. Ohne diese Kategorie „Kunst“ ist es für mich einfacher, dem Neuen auf Augenhöhe zu begegnen, einen persönlichen Zugang zu finden. Was ich dann mit dieser Begegnung anfange, kann etwas Persönliches sein ohne den Zwang, ein unpersönliches Urteil finden zu müssen.
Die von mir geschilderten Kunstwerke habe ich zwar mit Hilfe des Stadtplans für die Skulptur Projekte Münster 2017 aufgesucht, doch hat sich bei einigen durchaus diese Art von persönlicher Begegnung ergeben.
Bildwesen
Das erste Kunstwerk meiner Tour ist die Außeninstallation von Ei Arakawa an der Peripherie von Münster, in der Mecklenbecker Straße 252.
Auf der Wiese vor Haus Kump: mehrere blau leuchtende, stoffartige Bilder, in rechteckige Gestelle gehängt, gleichmäßig auf der Wiese verteilt. Dahinter jeweils ein Stromkasten und einige eingeschweißte Texte von verschiedenen Verfassern sowie kleine Reproduktionen von Bildern ohne gemeinsamen Nenner. Ab und zu undeutlicher Gesang zu klimpernder Musik. Ein Ensemble, zu dem ich keinen Bezug bekomme.
Am Himmel zieht ein Storch seine Kreise… mein Hund muss trinken. Wir gehen also erst mal zum Bach, bevor ich mich wieder bemühe, in dieser sehr lockeren Zusammenstellung von Dingen und Informationen Zusammenhänge zu finden. Am Wiesenrand finde ich die Aufsichtsperson, die vielleicht auch etwas erklären kann (romantisch: Studentin der Malerei, sichtbar an türkisfarbenen Farbresten an ihren bloßen Füßen); sie schläft gerade friedlich im Campingstuhl. Mein Hund und ich legen uns ins Gras und denken selber nach, besser gesagt, wir schauen: Die blauen Leuchtpanels der Bilder sind so regelmäßig in den etwas durchhängenden, ebenfalls gleichmäßig gemusterten Stoff eingesetzt, dass diese Behänge von Weitem wie selbst gestrickte Monitore aussehen, die schemenhaft Werke des Impressionismus, des Pointillismus oder der monochromen Malerei wiedergeben.
Liegend, aus der Froschperspektive, aus der Ruhe heraus, gefallen mir diese Techno – Behänge immer mehr. Ab und zu sind die Lichtpunkte eines einzelnen Bildes ausgeschaltet, und es sind nur die beige-grauen Batikmuster des Stoffes zu sehen, farblich und auch formal im Einklang mit der vertrockneten Wiesenfläche. Dann plötzlich leuchten die abertausend blauen Leuchtpunkte auf. Das Bild macht wieder auf sich aufmerksam und es erscheint die Mischung von Display und farbenfrohem Ölgemälde als Wandbehang unter freiem Himmel.
Ein unsichtbarer Sinn hat diese Bildwesen harmonisch in ihre Naturumgebung gesetzt: Wiese, Bach, Eichen im Wind.
Wie wichtig sind die eingeschweißten Bildvorlagen auf den Stromkästen? Kognitiv Bezüge herstellen zu sollen zu Kunstwerken aus der Kunstgeschichte würde mich momentan stören. Mir sind sie daher nicht wichtig.
Und was ist mit den Schwaden von schwerfälligem Gesang wie vom fahrenden Schrotthändler und was mit den laminierten Texten? Beschweren sich Sänger und Verfasser? Vielleicht über mächtige Personen mit eingeschränkter Psyche, die nichts als bossing Boss können und die diese sensible Balance von Gegensätzen, dieses Geflecht von Technik und Natur zerstören werden?
Ich stehe auf. Die Aufsichtsperson liegt jetzt im Gras, schläft zugedeckt mit ihrer Strickjacke. Ich wecke meinen Hund und gehe rüber zu den Pferden. Aber als ich zurückkomme, ist die junge Frau wach und erzählt: Zu den Skulptur Projekten 2017 gehöre es, Zeit zu haben, Zeit zu verbringen, die künstlerische Arbeit in ihrer Umgebung auf sich wirken zu lassen, mit anderen zu sprechen, die eigenen Eindrücke zu beobachten, vielleicht zu notieren.
Und nicht nur das Kunstwerk sei gemeint, sondern ich auch! Oder anders gesagt: Das, was zwischen mir und der Skulptur entsteht, ist das eigentliche Kunstwerk. Die Skulptur braucht mich, meine Erfahrungen, Assoziationen, auch die anderen Betrachter*innen, die Umgebung, das Wetter, sogar die gleichgültigen Passanten, all das… sonst sei es unfertig. Auch das Kunstwerk möchte teilhaben und wir können teilhaben und genau das sei das Partizipative, das Grundprinzip der Skulptur Projekte 2017.
Auf meinem Plan finde ich ein weiteres Kunstwerk in der Nähe, und wir ziehen weiter.
Feiner Unterschied
Die Teilhabe am Kunstwerk von C.W. Evans an der Stephanuskirche ist leider nicht für mich gedacht. Es ist exklusiv für die Anwohner dieses Stadtviertels konzipiert, vielleicht sogar nur für die Mitglieder der Kirchengemeinde St. Stephanus. Jedenfalls für die, die auf den Klang der Glocke der Stephanuskirche achten. An dieser ist nämlich bis Oktober ein Kühlgerät angebracht, welches das Glockenmetall kühlt mit dem Effekt, dass die Glocke geringfügig höher klingt. Die Wahrnehmung von Unsichtbarem oder fast nicht Hörbarem und für den feinen Unterschied wird also trainiert und verfeinert?
„Denn meine Schafe hören meine Stimme!“ – und die Stimme Gottes, müsste er, entsprechend unserer Zeitraffer-Mentalität, schneller sprechen, klänge ja auch höher.
Die Lücke
Am nächsten Tag ist das Wetter nüchtern und sonnenscheinlos, das Licht blauer als zuvor. Ich komme die Andreas-Hofer-Straße entlang, sehe auf der anderen Seite der Manfred-von-Richthofen-Straße, auf der Ecke einer weiten Abrissfläche, eine Wand aus übergroßen quaderförmigen Steinen (gegossen aus Recyclingschotter, wie ich später erfahre), aus der eine mächtige Stange, eine leicht übergroße Flutlichtlampe tragend, hervorragt. Woran erkennt man, dass dies nicht funktionale Normalität ist, sondern ein Kunstwerk?
Dann komme ich aus der gegenüberliegenden Richtung und sehe Treppen, die in Etappen einen einfachen Turm umlaufen. Sie sind modellhaft aus grau lackierter Holzfaser konstruiert, aber begehbar. Die Treppenstufen führen mich auf eine von den Quadern getragene Plattform mit Aussicht auf die Lücke, eine weite Sandmulde. Hier stand also vor einiger Zeit noch das markante Bürogebäude der Oberfinanzdirektion (OFD), welches die Architekturskizze, auf der ich stehe, irgendwie nachempfindet. Ein vereinfachtes, begehbares Architekturmodell zur vagen Erinnerung an ein konkretes Gebäude, welches vor Kurzem noch anstelle des derzeitigen Baulochs zu sehen war und funktionierte. Die Skulptur oder Installation beinhaltet also kein Konzept für Zukünftiges, sondern bedeutet einen Blick zurück – das Thema Modell-Architektur gegen den Strich gekämmt, mit Blick auf eine Sandmulde als Projektionsfläche für Gedanken über gewesene Architektur oder über Städtebau, Gedanken über Karl Marx, Wirtschaftskrisen, Non-Profit-Firmen… – eine Projektionsfläche ist geduldig und neutral. Ihr Titel: „OFF OFD“, ein Architekturfragment von Christian Odzuck, Andreas-Hofer-Straße 50.
Am Rand sitzen ist gefährlich
An einem Sonntag finde ich die „Skizze für einen Brunnen“ von Nicole Eisenmann auf einer Rasenfläche an der Promenade in der Nähe der Münzstraße.
Übergroße, etwas plump geformte Gips- und Bronzemenschen lagern beziehungslos, gelangweilt, müde, betrunken, aber auch ungeniert und entspannt um ein rechteckiges Becken, gefüllt mit intensiv algengrünem Wasser. Dort hängen sie ab, lungern herum, schlafen, hängen ihren Gedanken nach, überlassen sich vorbei schwebenden Gefühlen und Gedanken, und sollten doch Wasserspender sein.
Nirgends eine kraftvolle Fontäne! Aus den Schienbeinen eines Sitzenden fließen wie ungewollt ein paar nieselige Wassersträhnchen ins Bassin, und ein unmotiviert überstreckt stehender Mann, sinnlos trainiert, starrt in die Wolken, begießt unbeteiligt aus einem Loch seiner Kraftwade die Schimmelpilze, die neben ihm aus dem grünen Wasser sprießen und wie er in Bronze verewigt sind.
Aus der Bierdose des liegenden Trinkers gluckst sachte eine leichte Übermenge an Flüssigkeit, fließt daran fast unmerklich herab und lässt allmählich die sandige Unterlage des Liegenden immer mehr verschlammen.
Das muss man gesehen haben!
Die Anziehungskraft dieses Ensembles, für das das Wort Plätscherbrunnen eine Übertreibung wäre, ist stark! Menschen strömen in Gruppen heran, stehen drum herum: Sie haben faltige Gesichter mit Warzen, hängende Bäuche, und sogar schon die Kinder tragen schlecht sitzende Kleidung aus minderwertigen fusseligen Stoffen. Manchmal fotografieren sie sich als langweiligen Selfie-Witz oder stellen banale Fragen, weil es sonst nichts zu tun gibt – Fragen, die das Erklärmädel keine Zeit hat zu beantworten, da es den immer wieder defekten Wasserzufluss zur Bierdose reparieren muss.
Ein durstiger Dackel trinkt aus dem Becken viel von dem grünen Wasser. Wie gut, dass keine Anti-Algen-Chemie drin ist! Die Aufsichtsperson versucht mit einem Gummischieber die Algen vom Rand her zu beseitigen. „Bei heißem Wetter geht‘s besser“, meint sie, denn dann könne sie beim Algenwischen mit den Füßen im Wasser waten und ich könne das doch übrigens auch machen – so aus Spaß – und mein Hund könne auch mit rein. „Also bis dann“ sage ich, mache mich wieder auf den Weg und bin: entspannt!
Am 21. Juli, einem Freitag, lese ich in der Zeitung die Nachricht „Gipsfigur geköpft“. Eine ziemlich krasse Form, an einer Ausstellung teilzuhaben. Die darüber informierte Künstlerin hat bestimmt, dass die geköpfte Figur von nun an ohne Kopf dort sitzt und aus den Beinen ins Becken regnet. Auch das wird sich letztendlich ins Bild fügen.
Die national wie international renommierte Ausstellung Skulptur Projekte Münster 2017 mit 35 Skulpturen und Installationen im öffentlichen Raum wurde bereits am 10. Juni eröffnet und läuft noch bis zum 1. Oktober 2017. Sie ist das Kulturereignis des Jahres in Münster und findet nur alle zehn Jahre statt.
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