Wie eine schlechtere Busanbindung in einem ohnehin benachteiligten Stadtteil das Leben von Schulkindern und Eltern zusätzlich erschweren kann
Von Regina Ioffe
In Münsters Stadtteil Coerde macht das schlechte Bildungsangebot lange Pendelstrecken für die Schulkinder erforderlich. Doch damit nicht genug: Die geplanten Änderungen der Buslinien verschärfen die problematische Situation noch zusätzlich.
Wenn man an Pendler*innen denkt, sind die ersten Gedanken bei Erwachsenen, die zu ihrer täglichen Arbeitsstelle fahren. Die zunehmende Digitalisierung und Ausbreitung des Homeoffice ermöglicht dagegen Erwachsenen in einigen Tätigkeitsfeldern, an zwei bis drei Tagen pro Woche von zu Hause zu arbeiten und somit Ressourcen wie auch Fahrtzeiten zu sparen.
Ganz anders sieht es bei Schüler*innen aus. Die in Deutschland geltende Schulpflicht und die gerade in dem Alter notwendigen sozialen Kontakte machen tägliches Pendeln unumgänglich und unverzichtbar. In einigen Staaten gilt anstelle von Schulpflicht lediglich eine Unterrichtspflicht. Somit entfallen der obligatorische Schulbesuch und ein tägliches Pendeln in Verkehrsmitteln zur Schule. in den USA zum Beispiel wurden vom März bis zum Mai 2022 zirka fünf Prozent aller Kinder im schulpflichtigen Alter zu Hause unterrichtet. Zwischen 2016 und 2021 zeigte Homeschooling in den USA jährlich zehnprozentige Wachstumsraten.
Eine ähnliche Entwicklung gibt es in Großbritannien: Die Anzahl der Schüler*innen im Homeschooling hat sich dort zwischen den Jahren 2013 und 2018 mehr als verdoppelt.
Mehr und längere Schulwege sind hausgemacht
In Deutschland sind eine zeitweise Befreiung von Schulpflicht und die Hausbeschulung nur in den seltensten Ausnahmefällen möglich und spielen somit quantitativ keine Rolle. Ein Mobilitätsmuster von Kindern erfolgt nach dem Motto: „kurze Beine – kurze Wege“. Während die Kindergärten und Grundschulen von einer überschaubaren Größe sind und vor Ort zahlreich vorhanden, sind dagegen weiterführende Schulen allein schon wegen ihrer Größe und der Schülerzahl nur in ausgewählten Stadtteilen bzw. Orten vorhanden. Spätestens ab der 5. Klasse ist damit ein Pendelverkehr zwischen dem Zuhause und der Schule vorprogrammiert. Das mehrgliedrige Schulsystem in Deutschland erzwingt das Pendeln von Schüler*innen noch zusätzlich: Wenn die gewünschte Schulform vor Ort nicht vorhanden ist, führt dies zwangsläufig zu einer Erhöhung des Mobilitätsradius für die Kinder und Jugendlichen.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamts hat die Zahl der allgemeinbildenden Schulen in Deutschland seit dem Jahr 2000 von 41.865 auf knapp 32.200 abgenommen. Dies entspricht einem Rückgang von 22 Prozent, was auch zu einer Verlängerung des durchschnittlichen Schulweges geführt hat. Das Forschungszentrum Demografischer Wandel (FZDW) der University of Applied Science in Frankfurt untersuchte die für den Schulweg benötigte Zeit in 14 Bundesländern der Bundesrepublik. Daraus ergaben sich folgende Daten: 14,4 Prozent der Schüler brauchen höchstens zehn Minuten bis zur Schule (inklusive Fußweg), 30 Prozent sind zwischen zehn und 30 Minuten unterwegs; 14,9 Prozent brauchen 45 Minuten oder länger bis zur Schule (Quelle: www.spiegel-online.de vom 11.01.2018; “Deutschland: Schüler sind vom Pendeln gestresst, viele haben lange Schulwege” – DER SPIEGEL).
Kinder und Jugendliche, die besonders lange Strecken zur Schule zurücklegen müssen, klagen häufiger über Konzentrationsprobleme und Reizbarkeit im Vergleich zu Schüler*innen, die kurze Wege zur Schule haben. Die Lebenszufriedenheit sinkt, der Stresspegel steigt.
Die Länge des Schulwegs als Belastungsgröße
Das ZEW – Leibnitz Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung untersuchte die Erreichbarkeit von Bildungs-, Gesundheits- und kulturellen Einrichtungen in Abhängigkeit vom Haushaltseinkommen in Deutschland. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen: Deutsche Haushalte mit einem niedrigen Einkommen benötigen im Schnitt mehr Zeit für ihre Wege zu Einrichtungen der Daseinsvorsorge wie Kindergärten und Schulen oder Gesundheits- und kulturellen Einrichtungen. Die Unterschiede betragen meist nur wenige Minuten pro Wegstrecke, die aufs Jahr hochgerechnet aber zeitlich eine deutliche Mehrbelastung bedeuten.
Der etwas weitere Weg in die weiterführende Schule von fünf Minuten summiert sich so für die ärmsten 20 Prozent der Haushalte am Jahresende auf 33 Stunden. Der Befund längerer Wegstrecken für ärmere Haushalte hat auch unabhängig von der Gemeindegröße und der Zusammensetzung des Haushalts Bestand. Wenn wir jetzt unseren Blick von deutschlandweiten Daten abwenden und auf Münster richten, und zwar auf den kinderreichen und armen Stadtteil Coerde, wo etwa 40 Prozent der Kinder Leistungen nach SGB II, also Bürgergeld, beziehen, sehen wir eine enorm ungünstige Situation für die dort wohnenden Schüler*innen.
Eine verfehlte Schulpolitik produziert eine Brennpunktschule in Coerde
Als einzige weiterführende Schule gibt es in Coerde nur die Hauptschule mit zirka 200 Plätzen. Die Hauptschule Coerde wird laut dem Schulministerium NRW mit dem Sozialindex 7 geführt. Das ist der schlechteste Sozialindex, nicht nur im Vergleich zu anderen Schulformen wie Realschulen, Gymnasien, Gesamtschulen in Münster, sondern auch unter allen Hauptschulen in der Bildungs- und Universitätsstadt.
Und damit nicht genug: NRW-weit gibt es nur wenige Schulen mit so einem alarmierend schlechten Wert. Der Sozialindex berücksichtigt den Anteil von Schüler*innen, die SGB II bzw. Bürgergeld beziehen oder eine nichtdeutsche Familiensprache sprechen oder aus dem Ausland Zugezogene sind oder ein Förderschwerpunkt in den Bereichen Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung haben. Man hat es in Münster also schulpolitisch geschafft, mehrere Fälle mit besonderen Herausforderungen in EINER weiterführenden Schule unterzubringen!
Aus dem Grund, dass der Stadtteil Coerde das schwächste Bildungsangebot in ganz Münster aufweist und die meisten Familien dieses seiner minderen Qualität wegen für ihre Kinder ablehnen, müssen rund 80 Prozent aller Jugendlichen ab der 5. Klasse aufwärts zu weiterführenden Schulen in anderen Stadtteilen pendeln.
Die Herkunft bestimmt das Fahrverhalten mit
Das Fahrverhalten unterscheidet sich teilweise nach der Herkunft der Kinder: Während Kinder ohne Migrationshintergrund tendenziell häufiger mit dem Fahrrad zu einer weiterführenden Schule fahren, benutzen Schüler*innen mit Migrationshintergrund häufiger Linienbusse oder – falls vorhanden – spezielle Schulbusse. Die Schulbusse fahren morgens ein- bis zweimal zu festen Zeiten und sind meistens sehr voll. Da der Unterrichtsschluss zu verschiedenen Uhrzeiten erfolgt, fahren die Schüler*innen häufig mit normalen Linienbussen nach Hause, was die Zeit für den Rückweg verlängert und zu sehr vollen städtischen Linienbussen führt.
Aus dem beigefügten Diagramm lässt sich ein typisches Beispiel für einen Schulweg aus Coerde ableiten: Ein Schüler aus dem nördlichen Stadtteil steigt an der Bushaltestelle Königsberger Straße in den Bus ein und fährt zu einer weiterführenden Schule. Für die Hinfahrt benutzt er einen Schulbus (wenn vorhanden), für die Rückfahrt entweder ein oder zwei Linienbusse oder, wie beim Mauritz-Gymnasium, wieder einen Schulbus.
Die angegebene Gesamtfahrtzeit berücksichtigt fünf Minuten Fußweg zur Haltestelle Königsberger Straße. Ebenso enthalten ist die Fahrtzeit mit einem Bus der Linien 6 oder 8 mit den aktuell geltenden Routen über die Haltestellen Kanalstraße und Altstadt/Bült, eventuell noch eine Umsteigezeit sowie eine Fahrtzeit mit dem zweiten Bus und den Fußweg zu einer Schule von einer entsprechenden Bushaltestelle aus.
Im Umkreis gibt es viele Gymnasien, so dass für eine Fahrt zu einem Gymnasium mit dem Bus ein Schüler oder eine Schülerin aus Coerde tendenziell etwas weniger Zeit braucht als für eine Fahrt zu einer Realschule der einer Gesamtschule. Außerdem fahren die Linienbusse Richtung Stadtzentrum im 10-Minuten Takt, was vorteilhaft ist. Schüler*innen aus Coerde mit einer Gymnasialempfehlung bekommen quasi ein Bonus durch die etwas bessere Verkehrsanbindung.
Mit dem geplanten Umzug des Schlaun-Gymnasiums aus der Innenstadt in den Stadtt eil Gremmendorf verschlechtern sich allerdings die Pendelzeiten von betroffenen Kindern aus Coerde: Eine verkehrsgünstig gelegene Schule fällt dadurch weg. Schüler*innen, die keine Gymnasialempfehlung haben und keinen Platz in der nachgefragten Realschule im Kreuzviertel bekommen, müssen jeden Tag wesentlich längere Strecken bewältigen. Einige fahren zur Erna-de-Vries-Realschule oder zur Primus-Schule mit zirka 45 Minuten Anfahrtszeit in eine Richtung.
Längere Wartezeiten oder Wege zu einer weiterführenden Schule
Sehr viele neu zugewanderte Kinder aus Coerde bekommen einen Platz in einer Schule im Stadtteil Kinderhaus, wo sämtliche Schulformen vorhanden sind – ein Gymnasium, eine Realschule, eine Hauptschule. Die relativ kurze Anfahrtszeit von 19 Minuten morgens und 26 Minuten nachmittags täuscht: Die Schulbusse sind sehr voll und fallen in Richtung Kinderhaus manchmal sogar aus.
Die Linienbusse zwischen Coerde und Kinderhaus fahren nur einmal pro Stunde, sie sind zu klein und können die Schüler*innen zu Stoßzeiten nicht alle aufnehmen. Wenn der passende Bus ausfällt oder verpasst wird, muss der oder die Schüler*in entweder eine Stunde auf den nächsten direkten Bus warten oder über Umwege fast 50 Minuten zurückfahren.
Eltern aus Coerde, deren Kinder in Kinderhaus zur Schule fahren müssen, sind unzufrieden mit dem nicht ausreichenden Takt der Busse und fühlen sich und ihre Kinder benachteiligt. Schüler*innen aus dem benachteiligten Stadtteil Coerde haben aktuell tendenziell einen längeren Weg zu einer weiterführenden Schule. Sie liegen damit über den dazu in der Studie des Forschungszentrums Demografischer Wandel (FZDW) deutschlandweit ermittelten Durchschnittswerten für Schulwege und haben daher eine Mehrbelastung zu tragen.
Das Amt für Mobilität und Tiefbau und die Stadtwerke Münster planen, die Route der Buslinien 6 und 8 zu ändern, um damit die Verbindung zum Hauptbahnhof zu beschleunigen und neue Fahrgäste, vor allem Berufspendler*innen, zu gewinnen. Die neu geplante Route soll über die Gartenstraße führen, ohne die Haltestelle Altstadt/Bült anzufahren. Verlierer werden dadurch die Bestandskunden, unter anderen die Schüler*innen aus Coerde, weil sich dadurch der (Fuß-) Weg zu mehreren weiterführenden Schulen wie Realschule Kreuzviertel, Pascal-Gymnasium, Schiller-Gymnasium, Gesamtschule Mitte verlängert.
Von wegen „Stadt der kurzen Wege“
In NRW gelten laut der Schülerfahrkostenverordnung 2,0 Kilometer als zumutbare Fußwegstrecke zwischen einer weiterführenden Schule und der nächstgelegenen Haltestelle, was doppelt so lang ist als in einigen anderen Staaten. Durch die geplante Änderung der Buslinien aus Coerde wird zwar die maximale zumutbare Fußwegstrecke nicht überschritten, es ist aber zu bedenken, dass der Weg zur Schule mit einem schweren Rucksack bei schlechtem Wetter sicherlich keinen Spaß macht. Würde man das Bildungsangebot in Coerde erweitern und anstelle einer Hauptschule eine Realschule oder eine Gesamtschule eröffnen, könnten Pendlerströme von Schüler*innen vermieden werden, die Lebensqualität von Jugendlichen würde sich verbessern und der Stadtteil Coerde würde auch aufgewertet. Dafür braucht man eine Einigung auf der politischen Ebene, bei der Stadt Münster und bei der Bezirksregierung Münster. Es wäre jedenfalls ein wirkungsvoller Beitrag zum Konzept „Stadt der kurzen Wege“.
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